»Läßt du mich deshalb kein Peptid 7 nehmen?«
»Zum Teil, ja. Aber vor allem möchte ich kein Risiko eingehen.«
Vor einem Monat hatte Martin im Institut eine Mitteilung angebracht: Freiwillige gesucht.
Jeder Mitarbeiter des Instituts, der bereit war, sich für die ersten Tests mit Peptid 7 zur Verfügung zu stellen, sollte seinen Namen auf die Liste setzen. Martin hatte Ziele und Risiken genau erklärt. Sein Name stand als erster auf der Liste.
Rao Sastri trug sich gleich nach ihm ein. Nach ein paar Tagen standen vierzehn weitere Namen darauf, auch der von Yvonne.
Aus der endgültigen Liste wählte Martin insgesamt zehn Freiwillige aus. Yvonne gehörte nicht dazu. Als sie ihn nach dem Grund fragte, tat er es mit den Worten »vielleicht später, jetzt noch nicht« ab.
Diese ersten Erprobungen am Menschen wurden nicht durchgeführt, um die positiven Ergebnisse von Peptid 7 zu untersuchen, sondern um eventuelle nachteilige Nebenwirkungen festzustellen. »In England dürfen wir diese Tests selbst durchführen, für die man in Amerika die Zustimmung der FDA benötigt«, hatte Martin Celia am Telefon erklärt.
Bis jetzt - nach zwanzig Tagen - waren keine erkennbaren Nebenwirkungen aufgetreten. Martin war erleichtert, obwohl er wußte, daß noch sehr viel mehr Tests nötig sein würden.
Yvonne seufzte. »Ich möchte auch bald Peptid 7 haben. Sonst nehme ich nie ab.«
Martins Stimme war ernst geworden. »Ich werde morgen meine Mutter besuchen. Vater sagte mir heute, die Ärzte meinen, daß es nicht mehr lange dauert.«
Obwohl sich der körperliche Zustand von Martins Mutter nur wenig verschlechtert hatte, war die Alzheimersche Krankheit unbarmherzig fortgeschritten.
Vor ein paar Monaten hatte Martin sie in ein Pflegeheim in Cambridge gebracht, wo sie nur noch vor sich hin dämmerte. Martins Vater bewohnte eine kleine, aber hübsche Wohnung, die Martin, seit er für Felding-Roth arbeitete, für seine Eltern gemietet hatte.
»Das tut mir leid.« Yvonne berührte mitfühlend seine Hand. »Ich komme mit - wenn es dir nichts ausmacht, daß ich auf der Fahrt lerne.«
Sie beschlossen, gleich nach dem Frühstück loszufahren. Martin wollte auf dem Weg noch kurz in seinem Büro vorbeischauen.
Während Martin am nächsten Morgen im Institut einen Blick auf die Post und einen Computerausdruck vom Vortag warf, schlenderte Yvonne durch den Tierhalteraum. Martin fand sie dort eine Weile später. Sie stand vor einem Käfig, in dem sich mehrere Ratten befanden, und Martin hörte sie ausrufen: »Du lüsterner alter Bock!«
»Wen meinst du?« fragte er amüsiert.
Yvonne deutete auf den Käfig. »Diese Bande da - das sind die lüsternsten kleinen Biester, die ich je gesehen habe, scheinen nicht genug zu kriegen. Sex interessiert sie mehr als das Fressen.«
Martin betrachtete neugierig die Ratte, die sich unverdrossen weiter mit einer willfährigen weiblichen Ratte paarte, während sich im Nachbarkäfig ein anderes Pärchen auf die gleiche Weise vergnügte.
Er warf einen Blick auf die Beschriftungen an beiden Käfigen. Allen Tieren war eine neue, verfeinerte Version von Peptid 7 injiziert worden. »Du sagtest >seit neuestem< - sind sie erst >seit neuestem< so scharf? Seit wann denn?«
Yvonne zögerte, dann sah sie Martin an. »Ich glaube . . . seit sie ihre Injektionen kriegen.«
»Und es sind keine jungen Ratten?«
»Als Menschen könnten sie bereits Rente beziehen.«
Martin lachte. »Ist wahrscheinlich ein Zufall.« Dann überlegte er: War es wirklich ein Zufall?
Als könnte sie seine Gedanken lesen, fragte Yvonne: »Was wirst du tun?«
»Überprüf doch bitte am Montag mal die Geburtenrate von Ratten, die Peptid 7 bekommen haben. Ich möchte wissen, ob sie
über dem Durchschnitt liegt.«
»Dazu brauche ich nicht bis Montag zu warten, das kann ich dir gleich sagen: Sie liegt weit über dem Durchschnitt. Aber bis zu diesem Augenblick habe ich es nicht mit -«
»Tu's nicht!« unterbrach Martin sie scharf. »Bring es nicht damit in Verbindung! Falsche Vermutungen führen einen oft in die Sackgasse. Schick mir die Zahlen, die du hast.«
»Gut«, sagte sie gehorsam.
»Und danach stell bitte zwei neue Gruppen mit älteren männlichen und weiblichen Ratten zusammen, halte aber beide Gruppen voneinander getrennt. Die eine Gruppe wird Peptid 7 bekommen, die andere nicht. Ich möchte eine Computerstudie über die jeweiligen Paarungsgewohnheiten.«
Yvonne kicherte. »Ein Computer wird dir wohl kaum sagen können, wie oft sie . . .«
»Wahrscheinlich nicht. Aber er wird mir die Anzahl der Jungen nennen. Damit wollen wir uns begnügen.«
Sie nickte, und Martin spürte, daß ihr etwas anderes durch den Kopf ging.
»Was ist?« fragte er.
»Ich mußte gerade an etwas Komisches denken, das ich gestern gehört habe, als ich einkaufen war. Mickey Yates ist doch einer von den Freiwilligen, stimmt's?«
»Ja.« Yates, ein Laborant, war der Älteste der Peptid-7-Freiwil-ligen. Seit dem mehrere Jahre zurückliegenden Vorfall mit Celia und der geköpften Ratte war er darum bemüht, sich Martin gegenüber nützlich zu erweisen. Dazu gehörte auch seine Teilnahme am Testprogramm.
»Also, ich traf seine Frau auf dem Markt, und sie erzählte mir, wie erfreulich es sei, daß sich Mickey durch seine Arbeit wieder so jung fühle.«
»Wie hat sie das gemeint?«
»Das hab' ich sie auch gefragt. Und da wurde sie rot und sagte, in letzter Zeit fühle sich Mickey so >beschwingt und tatkräftig< -das waren ihre Worte -, daß sie sich gar nicht mehr vor ihm retten könne - im Bett.«
»Meinte sie, erst seit neuestem?«
»Ja.«
»Und vorher war er anders?«
»Es kam so gut wie nie vor - sagte sie.«
»Ich wundere mich, daß sie dir das erzählt hat.«
Yvonne lächelte. »Du kennst die Frauen nicht.«
Während der Fahrt hörten sie die Nachrichten im Radio. Zum ersten Mal in der britischen Geschichte war vor zwei Monaten ein weiblicher Premierminister gewählt worden, und jetzt impften Margaret Thatcher und ihre Regierung der Nation einen Unternehmungsgeist ein, den sie seit dem Zweiten Weltkrieg hatte vermissen lassen.
Martin schaltete das Radio ab und wandte sich näherliegenden Problemen zu.
»Ich mache mir Sorgen«, sagte er, »und ich möchte nicht, daß das, was wir heute morgen besprochen haben, bekannt wird. Du mußt das alles für dich behalten, und erzähl auch niemandem von der neuen Untersuchung. Halte die Ergebnisse unter Verschluß, bis du sie mir gibst. Und keine Geschichten mehr über Mickey Yates und seine Frau!«
»Okay«, sagte Yvonne, »aber ich verstehe nicht, warum du dir Sorgen machst.«
»Das will ich dir sagen. Wir haben ein Medikament entwickelt, das ernst genommen und sinnvoll gegen Krankheiten eingesetzt werden soll. Wenn sich aber herumspricht, daß es den Geschlechtstrieb anregt und außerdem zu Gewichtsverlust führt, wäre das das Schlimmste, was uns passieren könnte. Es wäre, als hätten wir das Schlangenöl neu entdeckt.«
»Ich glaube, ich verstehe, was du meinst«, sagte Yvonne. »Und ich verspreche dir, nicht darüber zu reden. Aber es wird schwer sein, andere davon abzuhalten.«
»Das fürchte ich auch«, bemerkte Martin düster.
Am späten Vormittag kamen sie in Cambridge an. Martin fuhr direkt zum Pflegeheim seiner Mutter. Sie lag im Bett, wo sie die meiste Zeit verbrachte, und konnte sich nicht einmal an die ein-fachsten Dinge erinnern. Wie seit vielen Jahren schon gab sie nicht die geringsten Anzeichen des Wiedererkennens von sich, als Martin sich über sie beugte.
Sie schien von Tag zu Tag dahinzuschwinden. Ihr Körper war abgezehrt, die Wangen hohl, die Haare dünn. In all den Jahren des allmählichen Verfalls - auch noch zu der Zeit, als Celia das alte Haus in Kite besucht hatte - war noch ein Rest von fraulicher Schönheit zu erkennen gewesen. Aber jetzt war auch der verschwunden. So als würde die Alzheimersche Krankheit, die ihr Gehirn zersetzt hatte, auch ihren Körper auflösen.