Vor ein paar Monaten hatte er während einer Marketing-Konferenz in Celias Büro die Wirkung von Hexin W folgendermaßen beschrieben: ». . . stoppt die Produktion der freien Radikale und folglich auch die Ansammlung der Leukozyten. Das Ergebnis: keine Entzündung, der Schmerz verschwindet«
All das stimmte.
Was ebenfalls aufgrund von Schlußfolgerungen und einigen eilig durchgeführten neuen Experimenten klar wurde, war, daß die Verbannung der Leukozyten gleichzeitig eine Schwächung bedeutete, eine Verwundbarkeit. Normalerweise töteten die Leukozyten an einem Krankheitsherd die Fremdkörper ab - die Bakterien. Somit waren Leukozyten, obgleich sie Schmerzen verursachten, auch ein Schutz. Aber wenn sie fehlten - bedingt durch die Auslöschung der freien Radikale -, dann blühten Bakterien und andere Organismen geradezu auf und riefen an verschiedenen Stellen des Körpers schwere Infektionen hervor.
Und konnten zum Tode führen.
Obgleich bis jetzt noch nichts bewiesen war, mußte sich Vincent Lord eingestehen, daß bei wenigstens einem Dutzend Todesfällen am Ende doch Hexin W die Ursache war. Ihm wurde jetzt auch klar - zu spät, um noch von irgendwelchem Nutzen zu sein -, daß es im klinischen Testprogramm von Hexin W eine schwache Stelle gegeben hatte. Die meisten Patienten waren in Krankenhäusern, unter ärztlicher Kontrolle beobachtet worden, wo sich eine Infektion nicht so schnell ausbreiten konnte. Aber alle ihm bekannten Todesfälle waren außerhalb von Krankenhäu-sern aufgetreten, ohne ärztliche Kontrolle, so daß sich die Bakterien ausbreiten und vermehren konnten . . .
Zu diesem Schluß - der seinen Mißerfolg bestätigte, seine Träume zerschlug und seine verzweifelten Ängste verstärkte -kam Lord ein paar Minuten, bevor Celia eintraf.
Er wußte jetzt, daß Hexin W vom Markt genommen werden mußte. Er wußte, daß er, weil er in seiner Verzweiflung versucht hatte, die Tatsachen zu vertuschen, sich schuldig gemacht hatte -da es zu weiteren Todesfällen gekommen war, die hätten vermieden werden können. Er würde unter Anklage gestellt und verurteilt werden und vielleicht sogar ins Gefängnis kommen.
Seine Gedanken wanderten siebenundzwanzig Jahre zurück, nach Champaign-Urbana, der University of Illinois, zu dem Tag, als er in das Büro des Dekans gegangen war, um eine beschleunigte Ernennung zu erreichen, die man ihm aber verweigert hatte.
Er hatte damals gespürt, daß der Dekan ihn, Vincent Lord, für charakterlos hielt. Jetzt fragte sich Lord zum ersten Mal in seinem Leben, ob er damit nicht vielleicht recht gehabt hatte.
Celia, die unangemeldet in Lords Büro erschien und die Tür hinter sich schloß, verlor keine Zeit.
»Warum weiß ich nichts davon, daß Exeter & Stowe vor vier Tagen den Vertrag mit uns gekündigt haben?«
Lord, der durch den plötzlichen Auftritt von Celia überrascht war, sagte unbeholfen: »Ich wollte es Ihnen mitteilen. Aber ich bin noch nicht dazu gekommen.«
»Wie lange hätten Sie denn noch gebraucht, wenn ich nicht gefragt hätte?« Und ohne eine Antwort abzuwarten: »Ich mußte erst von außerhalb erfahren, daß es nachteilige Berichte über Hexin W gibt. Warum habe ich auch von denen noch nichts gehört?«
»Ich habe sie geprüft . . . sie verglichen«, begann Lord lahm.
»Zeigen Sie sie mir«, befahl sie. »Alle. Sofort.«
Lord, dem klar war, daß es nichts mehr zu retten gab, zog den Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Schreibtischschublade.
Celia erinnerte sich plötzlich daran, wie sie vor sieben Jahren hier erschienen war und die ersten negativen Berichte über Mon-tayne zu lesen verlangt hatte. Damals hatte Lord sie ihr zuerst nicht zeigen wollen, aber als sie nicht locker ließ, hatte er dieselbe verschlossene Schublade aufgesperrt. Damals hatte sie sich ebenfalls gewundert, daß die Berichte nicht in der allgemeinen Büroablage aufbewahrt wurden, wo sie für jeden zugänglich gewesen wären.
Die gleiche Handlung. Der Versuch, etwas zu verbergen.
Verbittert machte sich Celia Vorwürfe - sie hätte aus der ersten Erfahrung lernen müssen. Für diese schwache Stelle in der Organisation war sie als Präsidentin verantwortlich.
Doppelt und dreifach verantwortlich - denn sie hatte gewußt, daß Vincent Lord dazu neigte, schlechte Nachrichten zu vertuschen, und sie hatte nichts dagegen unternommen.
Lord reichte ihr einen dicken Ordner. Im ersten Augenblick war Celia entsetzt, wie umfangreich er war. Als sie aber darin zu lesen begann, während Lord sie schweigend beobachtete, erstarrte sie vor Entsetzen. Fünfzehn Tote. Und alle hatten vor ihrem Tod Hexin W eingenommen.
Am Ende stellte sie die unvermeidliche Frage - und wußte die Antwort im voraus.
»Haben Sie die FDA über diese Berichte informiert?«
Lords Gesichtsmuskeln zuckten. »Nein.«
»Sie kennen doch die Vorschriften und die Fünfzehn-TageFrist?«
Lord nickte, ohne etwas zu sagen.
»Ich habe Sie vor einiger Zeit gefragt«, sagte Celia, »ob es über Hexin W nachteilige Berichte gibt. Sie sagten, das sei nicht der Fall.«
Lord, der sich verzweifelt bemühte, noch etwas zu retten, erwiderte: »Ich habe nicht gesagt, daß es keine gibt. Ich habe gesagt -daß es nichts gibt, was Hexin W direkt betrifft.«
Jetzt erinnerte Celia sich daran: So hatte er es tatsächlich gesagt. Es war eine ausweichende Antwort gewesen, typisch für Lord, den sie seit siebenundzwanzig Jahren kannte.
Und weil sie ihn schon so lange und so gut kannte, hätte sie erkennen müssen, daß er ihrer Frage nur auswich, und hätte nachhaken müssen. Hätte sie es getan, wüßte man seit Monaten Bescheid, und es hätte weniger Tote gegeben, weil die FDA sofort etwas unternommen und die Patienten vor dem Mittel gewarnt hätte . . .
Statt dessen hatte sie sich in einer Euphorie gewiegt, war verliebt gewesen in einen zweiten großen Erfolg . . . zuerst Peptid 7 und nun Hexin W . . . hatte sich eingebildet, daß nichts schiefgehen konnte. Aber es war etwas schiefgegangen, und jetzt stürzte die Welt genauso über ihr zusammen wie über Vincent Lord.
»Warum haben Sie das getan?« fragte sie, ohne eine vernünftige Antwort zu erwarten.
»Ich habe an Hexin W geglaubt . . .«, begann Lord.
Sie winkte ab. »Lassen Sie.«
Celia legte die Berichte wieder in den Ordner und erklärte: »Den nehme ich mit. Ich werde noch heute Kopien davon nach Washington schicken - dringend und durch Boten. Und ich werde den Leiter der FDA anrufen, um dafür zu sorgen, daß man sich sofort darum kümmert.«
Und mehr zu sich selbst fügte sie hinzu: »Ich kann mir denken, daß wir sehr bald von ihnen hören werden.«
20
Die FDA reagierte schnell, höchstwahrscheinlich weil Celia den Leiter direkt angesprochen hatte. Es wurde beschlossen, Hexin W einstweilen zurückzurufen, wobei »einstweilen« die Möglichkeit offenließ, das Medikament später mit einschränkenden Angaben wieder zuzulassen. Aber selbst wenn das geschehen sollte, war klar: Die großen Tage von Hexin W waren vorbei.
»Was verdammt schade ist«, sagte Alex Stowe kurz darauf in einem Gespräch zu Celia. »Es ist trotz allem ein gutes Medikament, und abgesehen von der Art und Weise, wie sich Vince persönlich verhalten hat, eine hervorragende wissenschaftliche Leistung.« Und düster fügte er hinzu: »In unserer Gesellschaft wollen alle Medikamente, die frei von jedem Risiko sind, und wie wir beide wissen, gibt es so etwas nicht und wird es auch nie geben.«
Celia hatte es sich angewöhnt, regelmäßig mit Stowe zu reden, der ein kluger Freund und Vertrauter war.
»Sie werden Hexin W bestimmt wiedersehen«, versicherte er. »Vielleicht mit verstärkten Schutzmaßnahmen oder nachdem es noch weiter entwickelt wurde. Wir brauchen eine Methode zur Ausschaltung der freien Radikale, selbst wenn das mit einem gewissen Risiko verbunden ist; es ist eine Technik, die sich medizinisch ausweiten wird. In den nächsten Jahren werden wir immer mehr darüber lesen. Wenn es einmal soweit ist, Celia, können Sie voller Stolz daran denken, daß Felding-Roth dabei Pionierarbeit geleistet hat.«