Alle Vertreter, die von Felding-Roth neu eingestellt wurden, mußten jetzt ein fünf Wochen dauerndes Ausbildungstraining absolvieren, während andere, die bereits fest angestellt waren, in kleinen Gruppen einen zehntägigen Refresher-Kurs in der Zentrale mitmachten. Zum großen Erstaunen aller waren die älteren Vertreter nicht nur kooperativ, sondern ganz begierig darauf, etwas dazuzulernen. Celia, die regelmäßig Vorträge hielt, war sehr beliebt. Sie fand heraus, daß sie von denjenigen, die bei der Verkaufstagung im Waldorf dabeigewesen waren, als »Johanna von Orleans« bezeichnet wurde, denn es hätte nicht viel gefehlt, und »die Jordan wäre wegen Ketzerei verbrannt worden«.
Wenn Celia an die Verkaufskonferenz zurückdachte, wurde ihr im nachhinein klar, wieviel Glück sie gehabt hatte und wie kurz sie vor dem Ende ihrer beruflichen Laufbahn gestanden hatte. Manchmal fragte sie sich, ob es ihr, wenn Sam Hawthorne nicht für sie eingetreten wäre und sie von der Tagung ausgeschlossen und ihr später gekündigt worden wäre - ob es ihr hinterher leid getan hätte. Sie hoffte, daß das nicht der Fall gewesen wäre. Sie hoffte auch, daß sie in Zukunft den gleichen Mut aufbringen würde, bei welcher Gelegenheit auch immer. Aber im Augenblick war sie mit dem zufrieden, was dabei herausgekommen war. Im Rahmen ihrer neuen Arbeit sah Celia Sam Hawthorne recht häufig, denn obwohl Teddy Upshaw ihm offiziell Bericht erstattete, nahm Sam ein persönliches Interesse an dem Trainingsprogramm und wußte genau, wieviel Celia dazu beitrug.
Weniger harmonisch war Celias Verhältnis zu Dr. Vincent Lord, dem Leiter der Forschungsabteilung. Da sie für das Verkaufstraining wissenschaftliche Hilfe benötigten, mußten sie häufig die Forschungsabteilung aufsuchen, was Dr. Lord, wie er ihr klarmachte, als eine Belästigung empfand. Trotzdem weigerte er sich, die Verantwortung an jemand anderen zu delegieren. Während einer ihrer Begegnungen bekam Celia von ihm zu hören: »Sie mögen vielleicht Mr. Camperdown und ein paar andere übertölpelt haben, damit Sie sich Ihr kleines Reich aufbauen konnten, mich aber können Sie nicht täuschen.«
Sie mußte sich zusammennehmen, um ruhig zu bleiben.
»Das ist nicht mein >Reich<, erwiderte sie, »ich bin nur die Assistentin, nicht die Leiterin. Wäre es Ihnen denn lieber, wenn die Ärzte weiterhin falsch informiert würden, so wie früher?«
»So oder so«, sagte Dr. Lord und starrte sie böse an, »bezweifle ich sehr, ob man den Unterschied erkennen könnte.«
Als sie Upshaw von der Unterhaltung berichtete, zuckte der die Achseln und sagte: »Vince Lord ist ein Arsch ersten Ranges. Aber er ist ein Arsch, der was von seinem Fachgebiet versteht. Soll ich mal mit Sam reden, damit er ihm eins aufs Dach gibt?«
»Nein«, sagte sie grimmig. »Ich werde schon allein mit ihm fertig.«
Sie schluckte also weiterhin seine Beleidigungen, lernte aber auch etwas dabei, und schließlich hatte sie Respekt vor Vincent Lords Fähigkeiten. Obwohl er nur sieben Jahre älter war als Celia - sechsunddreißig -, hatte er beeindruckende Qualifikationen aufzuweisen: den Bachelor of Science mit Auszeichnung von der University of Wisconsin, den Doktor der Chemie von der Univer-sity of Illinois und die Ehrenmitgliedschaft bei mehreren wissenschaftlichen Gesellschaften. Vincent Lord hatte als Assistenzprofessor an der University of Illinois einige Arbeiten veröffentlicht, in denen er bemerkenswerte Entdeckungen darlegte - dazu gehörte auch die orale Schwangerschaftsverhütung, die zur Verbesserung der Pille führte. Alle erwarteten von Dr. Lord einen großen Durchbruch, die Entwicklung eines wichtigen neuen Medikaments.
Im Laufe seiner Karriere aber hatte Vincent Lord es nie gelernt, umgänglich zu sein. Vielleicht war er deshalb Junggeselle geblieben, dachte Celia, obwohl er auf seine asketische Art durchaus anziehend wirkte.
Eines Tages wollte sie wieder einmal den Versuch machen, ihre Beziehung zu verbessern, und schlug ihm vor, sich beim Vornamen zu nennen, was in der Firma allgemein üblich war. »Es wäre wohl für beide Teile besser, Mrs. Jordan«, erwiderte er kühl, »wenn wir uns jederzeit an unseren unterschiedlichen Status erinnerten.«
Celia spürte, daß die Feindschaft, die bei ihrer ersten Begegnung vor anderthalb Jahren entstanden war, zu einem bleibenden Bestandteil ihrer Beziehung wurde. Dennoch erwies sich der Beitrag, den die Forschungsabteilung zu ihrem Trainingsprogramm leistete, dank Celias Beharrlichkeit als wesentlich.
Allerdings wurde ihr Plan, wie man das Verkaufsniveau heben könnte, nicht voll und ganz akzeptiert. Celia hatte sich ein Prüfungssystem ausgedacht, bei dem durch Stichproben und vertrauliche Befragung ermittelt werden sollte, welchen Eindruck die Vertreter bei ihren Arztbesuchen hinterließen. Dazu sollten Fragebogen an die Ärzte verschickt werden. Der Vorschlag wurde auf höchster Ebene diskutiert und abgelehnt. Dann forderte Celia, daß Beschwerdebriefe von Ärzten über Vertreter an die Abteilung für Verkaufstraining weitergeleitet und registriert werden sollten. Sie wußte durch eigene Kontakte, daß derartige Briefe bei der Firma eingingen. Aber niemand wollte zugeben, sie gesehen zu haben. Vermutlich waren sie in irgendwelchen Archiven vergraben, und korrigierende Maßnahmen wurden, falls es sie überhaupt gab, geheimgehalten. Auch dieser Antrag wurde abgelehnt.
»Es gibt Dinge«, erklärte Teddy Upshaw ihr geduldig, »von denen die da oben einfach nichts wissen wollen. Nach Ihrem Auftritt auf der Verkaufstagung konnten sie nicht umhin, ein paar zu ändern. Aber treiben Sie es nicht zu weit.«
Das ähnelte dem Rat, den Sam Hawthorne ihr vor der Rede im Waldorf gegeben hatte, und Celia erwiderte: »Eines Tages wird die Regierung Schritte unternehmen und uns vorschreiben, was wir zu tun haben.«
»Das haben Sie schon mal gesagt«, gab Upshaw zu, »und wahrscheinlich haben Sie recht.«
Das Thema Arzneimittel und Pharma-Industrie beschäftigte die Menschen auch andernorts.
Das ganze Jahr 1960 über war das Arzneimittelgeschäft fast täglich ein Thema in den Nachrichten - und meistens im negativen Sinn. Die ausgedehnten Senatsanhörungen, bei denen Senator Kefauver den Vorsitz hatte, waren ein gefundenes Fressen für die Presse und für Firmen wie Felding-Roth ein unerwartetes Martyrium. Das beruhte zum Teil auf der gekonnten Zurschaustellung des Senators und seiner Mitarbeiter.
Wie bei allen Kongreßdebatten dieser Art ging es dabei im wesentlichen um Politik, und die Richtung war zumeist vorher festgelegt. Wie Douglass Cater, ein Reporter aus Washington, schrieb: »Sie . . . kommen von einer vorgefaßten Idee zu einer vorher festgelegten Lösung.« Zudem waren Senator Estes Kefau-ver und seine Helfer einzig auf Schlagzeilen aus und ihre Darstellung der Dinge daher höchst einseitig. Der Senator erwies sich als ein Meister darin, sensationelle Anschuldigungen immer gerade in dem Augenblick vorzubringen, wenn die Reporter den Sitzungssaal verlassen mußten, um ihre Berichte durchzugeben -11.30 Uhr für die Abendzeitungen, 16.30 Uhr für die Morgenausgabe. Das hatte zur Folge, daß die Widerlegungen immer dann stattfanden, wenn die Reporter den Saal bereits verlassen hatten.
Auf diese Weise aber kamen manche häßliche Wahrheiten ans Licht: überzogene Arzneimittelpreise; gesetzwidrige Preisabsprachen; Preismanipulationen bei Regierungsaufträgen zur Lieferung von Arzneimitteln; irreführende Werbung bei Ärzten, einschließlich der Verharmlosung oder des Verschweigens gefährlicher Nebenwirkungen; Unterwanderung der Food and Drug Administration durch pharmazeutische Firmen und Bestechung eines hohen FDA-Mitarbeiters seitens einer pharmazeutischen Firma.
Die Schlagzeilen zielten - wenn auch zuweilen sehr einseitig -auf folgende Mißstände ab: