An einem Novembernachmittag schließlich wurden Unbehagen und vager Verdacht zur Gewißheit, und obwohl es erst einen Monat her war, kam es Andrew im nachhinein wie der Beginn einer Zeit qualvoller Gewissenserforschung vor.
Es passierte, als Andrew mit Townsend die freien Tage durchsprechen wollte, an denen sie sich gegenseitig vertreten sollten.
Nachdem er sich vergewissert hatte, daß Townsend keinen Patienten hatte, klopfte Andrew leise an die Sprechzimmertür und trat ein. Das hatte er schon häufig getan.
Townsend stand mit dem Rücken zu Andrew und drehte sich abrupt um; er war erschrocken, und in der Eile gelang es ihm nicht zu verbergen, was er gerade in der Hand hielt - eine beträchtliche Menge Tabletten und Kapseln. Andrew hätte sich dabei noch nichts gedacht, wenn sich der ältere Kollege nicht so merkwürdig benommen hätte. Townsend wurde vor Verlegenheit rot, dann hob er, als wollte er mit seinem Mut prahlen, die Hand zum Mund, stopfte die Tabletten hinein und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter.
Es gab für Townsend keine Möglichkeit, die Bedeutung dessen, was gerade geschehen war, vor Andrew zu vertuschen, aber er versuchte, es auf die leichte Schulter zu nehmen. »Jetzt haben Sie mich also dabei ertappt, wie ich mich aufmöbele . . . Ich gebe zu, daß ich das ab und zu brauche ... Sie wissen ja selbst, daß in letzter Zeit 'ne ganze Menge los war . . . Aber ich lasse mich nie gehen . . . ich bin ein alter Kuhdoktor, mein Junge . . . ich weiß zuviel, um die Kontrolle zu verlieren . . . viel zuviel.« Townsend lachte, aber das Lachen klang nicht echt. »Machen Sie sich nur keine Sorgen, Andrew ... ich weiß, wann ich aufhören muß.«
Diese Erklärung überzeugte Andrew keineswegs. Noch weniger überzeugend war die undeutliche Aussprache, die darauf schließen ließ, daß die Tabletten, die Noah Townsend eben geschluckt hatte, nicht die ersten an diesem Tag gewesen waren.
Andrew fragte mit einer Schärfe, die er sofort bedauerte: »Was haben Sie da eben genommen?«
Wieder das falsche Lachen. »Ach, nur ein paar Dexedrine und ein paar Percodan, wegen des Geschmacks . . . Andrew, verdammt noch mal, was ist denn schon dabei?« Und dann, fast angriffslustig: »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich alles unter Kontrolle habe. Und nun - warum sind Sie hier?«
Als Andrew die freien Tage erwähnte, die ihm jetzt grotesk unwichtig vorkamen, war er noch völlig durcheinander. Sie einigten sich rasch, und Andrew verließ das Sprechzimmer, so schnell er konnte. Er mußte allein sein, um nachzudenken.
Andrew war entsetzt über die Mischung von Tabletten und Kapseln - es mußten zwölf, wenn nicht fünfzehn gewesen sein -, die der ältere Kollege ganz beiläufig heruntergeschluckt hatte. Es handelte sich, wie Noah selbst zugegeben hatte, um Stimulantia und Beruhigungsmittel - Mittel mit gegensätzlicher Wirkung also, die kein vernünftiger Arzt in dieser Kombination verschreiben würde. Obwohl er kein Experte für Rauschmittel war, wußte Andrew, daß die Menge und die Beiläufigkeit der Einnahme deutliche Anzeichen dafür waren, daß Townsend auf der Straße der Süchtigen schon eine weite Strecke zurückgelegt hatte. Und rezeptpflichtige Arzneimittel, die wahllos eingenommen wurden, konnten genauso gefährlich und zerstörerisch sein wie jede andere Droge, die illegal auf der Straße verkauft wurde.
Was sollte er tun? Andrew beschloß, mehr darüber in Erfahrung zu bringen. Während der nächsten zwei Wochen verbrachte er jede freie Minute in der medizinischen Bibliothek. Das St. Bede's Hospital hatte nur eine relativ kleine, aber Andrew kannte eine in Newark. In beiden fand er Aufzeichnungen über Ärzte, die drogensüchtig geworden waren, und studierte das vorhandene Material eingehend. Es war auffallend, wie weit verbreitet dieses Phänomen war. Die American Medical Association schätzte, daß fünf Prozent aller Ärzte durch Drogen, Alkohol oder ähnliches »geschädigt« waren. Wenn die AMA schon diese erschreckend hohe Zahl zugab, überlegte Andrew, mußte die wirkliche Zahl noch weit höher liegen. Die meisten Schätzungen lagen bei zehn, ja sogar bei fünfzehn Prozent.
In einem Punkt waren sich alle Beobachter einig - daß Ärzte leicht in Schwierigkeiten gerieten, weil sie sich selbst überschätzten. Sie waren davon überzeugt, daß ihnen die Drogen nicht gefährlich werden konnten, weil sie soviel darüber wußten. Aber meistens täuschten sie sich. Noah Townsends Worte: ». . . ich lasse mich nie gehen. . . ich weiß zuviel, um die Kontrolle zu verlieren . . . ich weiß, wann ich aufhören muß . . .« schienen nur ein pathetisches Echo all dessen, was Andrew nun las.
Es wurde hervorgehoben, daß Ärzte süchtig wurden und über lange Zeit unbemerkt blieben, weil sie sich die Drogen so leicht beschaffen konnten. Das war etwas, worüber Andrew schon mit Celia gesprochen hatte: daß Ärzte von jedem Mittel in praktisch unbegrenzten Mengen Gratisproben erhalten konnten, wenn sie einen Vertreter der betreffenden Firma darum baten.
Als Andrew den Arzneimittelschrank in Noah Townsends Sprechzimmer inspizierte, schämte er sich zwar, rechtfertigte es aber mit dem Gedanken, daß es notwendig war. Er hatte gewartet, bis Townsend zur Visite ins Krankenhaus gefahren war.
Eigentlich hätte der Schrank verschlossen sein müssen, war es aber nicht. Ganze Berge von Ärztemustern quollen ihm entgegen. Andrew erkannte einige der Medikamente wieder, die Townsend genannt hatte, darunter auch Betäubungsmittel, von denen er einen besonders großen Vorrat besaß.
Andrew hielt in seinem eigenen Sprechzimmer auch einige Mittel unter Verschluß, Muster von Medikamenten, die er regelmäßig verschrieb und die er zuweilen Patienten aushändigte, die sie sich selbst nicht leisten konnten. Aber verglichen mit dem, was er hier vorfand, war sein eigener Vorrat verschwindend gering. Außerdem hob Andrew aus Sicherheitsgründen niemals Narkotika auf. Er stieß einen Pfiff aus. Wie konnte Noah nur so sorglos sein? Wie hatte er sein Geheimnis so lange bewahren können? Und wie hatte er alle diese Mittel nehmen und dabei die Kontrolle über sich behalten können? Die Antwort auf all diese Fragen schien nicht einfach zu sein.
Bei seinen Nachforschungen stellte Andrew beunruhigt fest, daß es kein umfassendes Programm gab, um Ärzten, die wegen übermäßigen Tablettenkonsums Probleme hatten, zu helfen oder ihre Patienten zu schützen. Die Ärzteschaft ignorierte das Problem, wo sie nur konnte; und wenn es sich einmal nicht ignorieren ließ, wurde es totgeschwiegen und vertuscht. Wie es schien, hatte noch nie ein Arzt einen Kollegen der Drogensucht bezichtigt. Nirgends fand Andrew einen Hinweis darauf, daß man einem drogensüchtigen Arzt die Approbation entzogen hätte.
Eine Frage ließ ihn nicht los: Was passierte mit Townsends Pa-tienten, die gewissermaßen auch Andrews Patienten waren, weil sie eine gemeinsame Praxis hatten und sich auch gegenseitig vertraten? Waren diese Patienten gefährdet? Auch wenn sich Townsend normal benahm und, soweit Andrew wußte, bisher keine Fehler gemacht hatte - würde dieser Zustand anhalten? Konnte man sich darauf verlassen? Würde Noah eines Tages nicht doch eine falsche Diagnose stellen oder ein wichtiges Symptom übersehen? Und wie verhielt es sich mit seiner noch größeren Verantwortung als Chefarzt des St. Bede's Hospitals?
Je mehr Andrew darüber nachdachte, desto mehr Fragen stellten sich ihm, und um so schwieriger waren die Antworten.
Schließlich vertraute er sich Celia an.
Es war kurz vor Weihnachten. Celia und Andrew waren zu Hause und hatten mit Lisa, die ganz aufgeregt war, den Baum geschmückt. Lisa erlebte »Weihnach«, wie sie es nannte, zum ersten Mal bewußt. Als sie vor Aufregung und Müdigkeit fast einschlief, trug Andrew sie in ihr Bett. Danach blieb er einen Augenblick im angrenzenden Schlafzimmer stehen, in dem Bruce, das Baby, in seiner Wiege schlief. Dann ging er ins Wohnzimmer zurück; Celia hatte einen Scotch mit Soda gemixt. »Ich hab' ihn ordentlich stark gemacht«, sagte sie, als sie ihm das Glas reichte. »Ich glaube, du kannst einen gebrauchen.«