Trotzdem . . .
Manchmal bereitete Dr. Vincent Lord dem Dekan Unbehagen.
Der Grund war nicht das reizbare Temperament, das Lord an den Tag legte; dergleichen ging häufig mit einem scharfen Verstand einher und wäre noch zu ertragen gewesen. Jede Universität - bei dem Gedanken daran stieß der Dekan einen Seufzer aus - war eine Brutstätte von Haß und Neid, und oft genug geriet man sich um unbedeutender Dinge willen in die Haare.
Nein, es war etwas anderes, etwas, das weit darüber hinausging. Und diese Frage hatte sich schon früher einmal gestellt:
Barg Vincent Lord tief in seinem Inneren den Samen intellektueller Unredlichkeit und wissenschaftlichen Betrugs?
Vor fast vier Jahren, im ersten Jahr seiner Assistenzprofessur, hatte Dr. Lord eine wissenschaftliche Arbeit über eine Reihe von Experimenten vorbereitet, die, wie er behauptete, außergewöhnliche Ergebnisse zeitigten. Die Arbeit stand kurz vor der Veröffentlichung, als ein Kollege der University of Illinois - ein älterer Wissenschaftler der Organchemie - wissen ließ, daß er sich be-müht habe, die Versuche, die Dr. Lord beschrieb, nachzuvollzie-hen, daß es ihm aber nicht gelungen sei; er sei zu anderen Ergebnissen gelangt.
Es folgte eine genaue Untersuchung, die erbrachte, daß Vincent Lord Fehler unterlaufen waren. Es schienen »ehrliche« Fehler zu sein, Fehlinterpretationen; Lord schrieb seine Arbeit um, und sie wurde etwas später veröffentlicht. Allerdings weckte sie nicht dasselbe wissenschaftliche Interesse, wie es die ursprünglichen Ergebnisse getan hätten - wenn sie gestimmt hätten.
An und für sich war diesem Vorfall keine allzu große Bedeutung beizumessen. Was Dr. Lord unterlaufen war, konnte den besten Wissenschaftlern passieren. Jeder machte einmal einen Fehler. Aber wenn ein Wissenschaftler nachträglich einen Irrtum entdeckte, dann war es üblich, ihn zuzugeben und bereits veröffentlichte Arbeiten zu berichtigen.
In Lords Fall war es anders gewesen. Unter seinen Kollegen breitete sich ein Verdacht aus, der durch Lords Reaktion zustande kam, als man ihn damit konfrontierte - daß er nämlich von den Fehlern bereits gewußt hatte, als die Arbeit noch nicht abgeschlossen war, aber geschwiegen hatte in der Hoffnung, daß niemand außer ihm es bemerken würde.
Eine Zeitlang wurde auf dem Campus viel über Moral und Ethik geredet. Als Vincent Lord aber eine ganze Serie unangefochtener und vielgerühmter Entdeckungen machte, verstummten die Gerüchte wieder, und der Vorfall schien vergessen.
Auch Dekan Harris hatte ihn fast vergessen. Bis zu dem Gespräch, das er vor zwei Wochen auf einer wissenschaftlichen Tagung in San Francisco geführt hatte.
»Hören Sie, Bobby«, hatte ein Professor von der Stanford Uni-versity, ein alter Bekannter, eines Abends bei ein paar Drinks zu Harris gesagt, »wenn ich Sie wäre, würde ich diesen Lord genauer unter die Lupe nehmen. Einige von uns haben festgestellt, daß seine beiden letzten Arbeiten sich nicht nachvollziehen lassen. Seine Synthesen sind in Ordnung, aber zu diesen spektakulären Ergebnissen, die er für sich in Anspruch nimmt, gelangen wir nicht.«
Nach Einzelheiten befragt, erklärte der Professor: »Ich sage nicht, daß Lord ein Betrüger ist, und wir alle wissen, daß er was kann. Aber man hat den Eindruck, daß er ein junger Mann ist, dem alles nicht schnell genug geht. Wir beide wissen, was das bedeuten kann, Bobby - ab und zu ein paar Kurven schneiden, Daten so interpretieren, wie man sie gern haben möchte. Das führt zu wissenschaftlicher Arroganz und ist gefährlich. Ich sage also nur: Zum Wohle der University of Illinois und zu Ihrem eigenen - halten Sie die Augen offen!«
Besorgt und nachdenklich hatte sich Dekan Harris für den Rat bedankt.
Als er wieder im Champaign-Urbana war, ließ er den Leiter von Lords Fachbereich zu sich rufen und informierte ihn über die Unterhaltung in San Francisco. »Und was ist mit den beiden letzten Veröffentlichungen von Vince Lord?« wollte er schließlich wissen.
Am nächsten Tag brachte der Fachbereichsleiter die Antwort. Ja, Dr. Lord räume ein, daß es wegen seiner neuesten Ergebnisse Diskussionen gegeben habe; er beabsichtige, die Versuche zu wiederholen, und werde gegebenenfalls eine Berichtigung veröffentlichen.
Oberflächlich betrachtet war daran nichts auszusetzen. Und doch hing über der Unterhaltung die unausgesprochene Frage: Hätte Lord etwas unternommen, wenn niemand das Thema zur Sprache gebracht hätte?
Jetzt, zwei Wochen später, sann Dekan Harris erneut über diese Frage nach, als seine Sekretärin verkündete: »Dr. Lord ist da.«
»Das war's«, schloß Vincent Lord zehn Minuten später. Er saß dem Dekan am Schreibtisch gegenüber. »Sie haben anhand meiner Bibliographie gesehen, was ich alles veröffentlicht habe, Herr Dekan. Ich glaube, daß sie eindrucksvoller ist als die aller anderen Assistenzprofessoren dieser Fakultät. Es gibt tatsächlich niemanden, der nur annähernd soviel vorzuweisen hat. Ich habe Ihnen auch berichtet, was ich für die Zukunft plane. Wenn man al-les zusammennimmt, glaube ich, daß eine beschleunigte Ernennung gerechtfertigt wäre.«
Der Dekan sah Dr. Lord über seine Fingerspitzen hinweg an und sagte leicht belustigt: »An Selbstunterschätzung scheinen Sie nicht gerade zu leiden.«
»Warum sollte ich?« Die Antwort kam schnell und scharf, ohne jeden Humor. Lords dunkelgrüne Augen starrten den Dekan an. »Ich weiß so gut wie jeder andere, was ich wert bin. Und ich kenne eine ganze Menge Leute hier, die längst nicht soviel tun wie ich.«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte Dekan Harris mit einer Spur Schärfe in der Stimme, »dann lassen wir die anderen aus dem Spiel. Die stehen nicht zur Debatte. Sie stehen zur Debatte.«
Lords Gesicht lief rot an. »Ich verstehe nicht, warum überhaupt etwas zur Debatte stehen soll. Die Sache scheint mir völlig klar. Ich dachte, das hätte ich Ihnen deutlich gemacht.«
»Das haben Sie, in der Tat. Mit ziemlicher Zungenfertigkeit.« Dekan Harris beschloß, sich nicht provozieren zu lassen. Schließlich hatte Lord in bezug auf seine Leistungen recht. Warum sollte er falsche Bescheidenheit an den Tag legen? Selbst seine aggressive Art ließ sich entschuldigen. Viele Wissenschaftler - auch er selbst - hatten einfach keine Zeit, sich mit Diplomatie und Nettigkeiten abzugeben.
Sollte er Lords Bitte um eine vorzeitige Ernennung also entsprechen? Nein. Dekan Harris wußte schon jetzt, daß er es nicht tun würde.
»Sie müssen sich darüber im klaren sein, Dr. Lord«, erläuterte er, »daß ich die Entscheidung über eine Ernennung nicht allein treffe. Als Dekan muß ich mich mit dem Fakultätskomitee beraten.«
»Das sind doch . . .« Lord fehlten die Worte, und er verstummte.
Schade, dachte der Dekan. Wenn er gesagt hätte »ein Haufen Schwachköpfe« oder Ähnliches, hätte ich jetzt einen Vorwand, ihn hinauszuwerfen, aber da es sich um eine förmliche Unterre-dung handelt, wollen wir es auf sich beruhen lassen.
»Eine von Ihnen befürwortete Ernennung wird immer akzeptiert.« Vincent Lord runzelte die Stirn. Er haßte es, diesem Mann gegenüber, den er für einen minderwertigen Wissenschaftler hielt und der in seinen Augen nichts als ein Bürohengst war, unterwürfig zu sein. Aber leider hatte dieser Bürohengst die Autorität der Universität hinter sich.
Dekan Harris gab keine Antwort. Was Lord gesagt hatte, traf zu, aber das lag nur daran, daß er nie irgendeine Stellung bezog, bevor er nicht sicher war, daß die Fakultät sie akzeptieren würde. Obgleich ein Dekan ranghöchstes Mitglied einer Fakultät war, besaß die Fakultät als Ganzes mehr Macht als der Dekan. Deshalb wußte er, daß Lord zu diesem Zeitpunkt niemals berufen werden würde, selbst wenn er es befürwortete.