Inzwischen gingen über die beiden letzten Veröffentlichungen von Vincent Lord auf dem Campus schon Gerüchte um, und auch der vier Jahre zurückliegende Vorfall, den man fast vergessen hatte, würde wieder ans Tageslicht gezerrt werden.
Es hatte keinen Sinn, überlegte der Dekan, eine Entscheidung, die bereits getroffen war, länger zu verschweigen.
»Dr. Lord«, erklärte er ruhig, »ich werde Sie nicht für eine vorzeitige Ernennung empfehlen.«
»Und warum nicht?«
»Ich glaube nicht, daß die Gründe, die Sie vorgebracht haben, zwingend sind.«
»Was meinen Sie mit >zwingend?<« Die Worte schössen wie ein Befehl heraus.
Jede Geduld hat ihre Grenzen, entschied der Dekan. »Ich glaube, es wäre für beide Teile besser«, erwiderte er kühl, »wenn wir dieses Gespräch beendeten. Auf Wiedersehen!«
Aber Lord rührte sich nicht vom Fleck. Er blieb vor dem Schreibtisch sitzen und starrte den Dekan an. »Ich bitte Sie, es sich noch einmal zu überlegen. Wenn Sie das nicht tun, könnten Sie es eines Tages bedauern.«
»Wieso bedauern?«
»Ich könnte mich entschließen, von hier wegzugehen.«
»Das würde mir leid tun«, bemerkte Dekan Harris und meinte es ehrlich. »Es wäre ein Verlust für uns, Dr. Lord. Sie haben der Universität zu Ansehen verholfen und werden es sicher auch weiterhin tun. Andererseits glaube ich« - der Dekan gestattete sich ein dünnes Lächeln -, »daß wir auch ohne Sie auskommen würden.« Lord erhob sich von seinem Stuhl, das Gesicht rot vor Zorn. Wortlos stapfte er aus dem Büro und warf die Tür hinter sich zu.
Dekan Harris rief sich, wie schon so oft, ins Gedächtnis, daß es zu seinem Job gehörte, mit talentierten jungen Leuten, die oft überreagierten, gelassen und fair umzugehen, und wandte sich wieder anderen Arbeiten zu.
Im Gegensatz zum Dekan vermochte Dr. Lord die Angelegenheit nicht aus seinen Gedanken verbannen. Immer wieder spulte er das Gespräch in seinem Gedächtnis ab und wurde dabei immer verbitterter und böser, bis Haß in ihm aufwallte, nicht nur auf Harris, sondern auf die gesamte Universität. Obwohl dieser Punkt bei dem Gespräch nicht erwähnt worden war, hatte Vincent Lord den Verdacht, daß die geringfügigen Berichtigungen, die er in bezug auf seine beiden letzten Veröffentlichungen würde vornehmen müssen, etwas mit der Ablehnung zu tun hatten. Dieser Verdacht machte ihn noch wütender, denn im Vergleich zu seinen umfassenden wissenschaftlichen Leistungen war das, seiner Meinung nach, geradezu banal. O ja, er wußte genau, wie es zu diesen Fehlern hatte kommen können. Er war tatsächlich ungeduldig gewesen, allzu euphorisch und in Eile. Er hatte für einen ganz kurzen Augenblick seinem Wunschdenken nachgegeben und jede wissenschaftliche Vorsicht außer acht gelassen. Aber er hatte sich vorgenommen, daß ihm so etwas nie wieder passieren würde. Außerdem gehörte das alles der Vergangenheit an, er würde sich in Kürze öffentlich berichtigen. Warum machte man sich darüber also noch Gedanken? Das war kleinlich! Banal!
Zu keinem Zeitpunkt wäre Vincent Lord in den Sinn gekommen, daß es gar nicht diese Vorfälle selbst waren, auf die sich seine Kritiker bezogen, sondern gewisse Züge seines Charakters. Da er derartige Überlegungen aber nicht anstellte und auch kein Verständnis dafür gehabt hätte, wuchs seine Bitterkeit.
Infolgedessen reagierte er drei Monate später, als ihn auf einer wissenschaftlichen Tagung in San Antonio ein Repräsentant von Felding-Roth Pharmaceuticals ansprach und einlud, »an Bord« zu kommen - eine beschönigende Bezeichnung für das Angebot, für die Firma zu arbeiten -, wenn auch nicht sofort positiv, so doch mit einem »mal sehen, vielleicht«.
Das Angebot selbst war nichts Ungewöhnliches. Die großen Pharma-Konzerne waren ständig auf der Suche nach neuen Talenten für die wissenschaftliche Forschung und sahen sorgfältig alle Veröffentlichungen aus dem Universitätsbereich durch. Wenn sie etwas Interessantes fanden, wurde in der Regel zunächst eine Gratulation geschickt. Es folgten erste Kontakte bei akademischen Veranstaltungen, auf denen sich die Firmen-Repräsentanten mit Wissenschaftlern auf neutralem Boden begegneten. Lange vor der Tagung in San Antonio war Vincent Lord als mögliches »Ziel« ausgewählt worden.
Dann folgten konkretere Gespräche. Was Felding-Roth suchte, war ein hochkarätiger Wissenschaftler seines Fachgebiets, der die Leitung einer neuen Abteilung, die sich mit Steroi-den beschäftigte, übernehmen sollte. Von Anfang an behandelten ihn die Vertreter der Firma mit Respekt und Hochachtung, eine Einstellung, die ihm gefiel und die er als angenehmen Kontrast zu der »schäbigen« Behandlung seitens der Universität empfand.
Das Angbot war, unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten, äußerst interessant. Ebenso das Gehalt, 14.000 Dollar pro Jahr, fast doppelt soviel, wie er an der Universität verdiente.
Aber um gerecht zu sein: Geld war für Vincent Lord fast genauso uninteressant wie Essen. Persönliche Bedürfnisse hatte er kaum und folglich auch nie Schwierigkeiten, mit seinem Geld auszukommen. Aber das Geld, das ihm der Pharma-Konzern bot, war ein weiteres Kompliment - eine Anerkennung dessen, was er wert war.
Nachdem Dr. Lord zwei Wochen lang überlegt hatte, nahm er das Angebot an. Und verließ die Universität, ohne sich richtig zu verabschieden. Im September 1957 nahm er seine Tätigkeit bei Felding-Roth auf.
Kurz darauf ereignete sich etwas Ungewöhnliches. Anfang November brach der Leiter der Forschungsabteilung über einem Mikroskop zusammen und starb an einer schweren Gehirnblutung.
Vincent Lord war zur Stelle. Er besaß die nötigen Qualifikationen und erhielt den Posten.
Jetzt, drei Jahre später, hatte sich Dr. Lord bei Felding-Roth fest etabliert. Er wurde respektiert. Seine Fähigkeiten wurden nie in Frage gestellt. Er leitete seine Abteilung erfolgreich - Einmischungen von außen gab es nur selten -, und seine Beziehungen zum Personal waren trotz seines schwierigen Charakters gut.
Und was genauso wichtig war: Seine eigene wissenschaftliche Arbeit ging voran.
Jeder andere wäre unter diesen Umständen glücklich gewesen. Für Vincent Lord aber gab es dieses ständige Syndrom des Zweifeins und Grübeins über lang zurückliegende Entscheidungen -und Zorn und Bitterkeit über die verhinderte Universitätslaufbahn. Die Gegenwart war ebenfalls voller Probleme, zumindest glaubte er das. Den Firmenangehörigen außerhalb seiner Abteilung brachte er tiefes Mißtrauen entgegen. Wollten Sie seine Stellung untergraben? Es gab mehrere, die er nicht mochte und denen er nicht traute - dazu gehörte auch diese penetrante Frau. Celia Jordan erfuhr viel zuviel Beachtung. Ihre Beförderung hatte ihm nicht gepaßt. Er betrachtete sie als eine Konkurrenz um Prestige und Macht.
Aber es bestand immerhin die Möglichkeit - und darauf hoffte er -, daß diese Hexe Jordan sich übernahm, stolperte und verschwand. Was ihn betraf, so konnte das nicht schnell genug geschehen.
Dies alles aber würde unwichtig, selbst die erlittenen Beleidigungen an der Universität würden verblassen, wenn ein ganz be-stimmter Fall eintrat, der schon jetzt im Bereich des Wahrscheinlichen lag. Dann würde niemand soviel Macht besitzen und soviel Achtung genießen wie Vincent Lord.
Wie die meisten Wissenschaftler fühlte sich auch Vincent Lord durch das Unbekannte herausgefordert. Und wie viele andere hatte er lange davon geträumt, einen persönlichen großen Durchbruch zu erzielen, eine Entdeckung zu machen, die die Grenzen des Wissens auf dramatische Weise erweiterte und seinen Namen in die Geschichte eingehen ließ.
Die Verwirklichung dieses Traums schien jetzt möglich.
Nach drei Jahren beharrlicher Arbeit bei Felding-Roth, einer Arbeit, die, wie er wußte, wohldurchdacht war, zeichnete sich schließlich eine chemische Verbindung ab, die Grundlage für ein revolutionäres neues Heilmittel werden könnte. Es blieb noch immer viel zu tun.