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Die notwendigen Experimente und Tierversuche würde noch mindestens zwei Jahre dauern, aber die ersten Schritte waren erfolgreich gewesen, die Zeichen gesetzt. Mit seinem Wissen, seiner Erfahrung und seiner wissenschaftlichen Intuition konnte Vincent Lord sie deutlich erkennen.

Das neue Mittel würde Felding-Roth zu ungeahnten Einnahmen verhelfen. Aber das war unwichtig. Wichtig war, daß es Dr. Vincent Lord weltweiten Ruhm einbringen würde.

Er brauchte nur noch ein bißchen Zeit. Dann würde er es ihnen zeigen.

Bei Gott, er würde es ihnen allen zeigen!

11

Die Ereignisse um Thalidomid schlugen ein wie eine Bombe.

»Auch wenn keiner von uns es damals ahnte«, sollte Celia später sagen, »nach dem Bekanntwerden der Tatsachen über Thali-domid konnte in der Pharma-Industrie nichts mehr so sein wie zuvor.«

Die Entwicklung begann ganz allmählich, blieb zunächst auf lokale Bereiche beschränkt und wurde von denen, die anfänglich damit zu tun hatten, nicht mit einem Arzneimittel in Verbindung gebracht. In der Bundesrepublik Deutschland gab es im April 1961 bei den Ärzten Beunruhigung über das plötzliche Auftreten von Phokomelie. Die Bezeichnung stammt aus dem Griechischen: phoco bedeutet »Seehund« und melos »Gliedmaßen«. Es handelte sich bei diesem Phänomen um das Auftreten von Mißbildungen bei Neugeborenen - anstelle von Armen und Beinen hatten sie kleine unbrauchbare, flossenähnliche Gebilde. Im Jahr davor waren zwei Fälle bekanntgeworden - eine noch nie dagewesene Zahl, weil, wie ein Forscher meinte, »Kinder mit zwei Köpfen viel häufiger vorkommen«. Und jetzt tauchten plötzlich Dutzende von Babys mit mißgebildeten Gliedmaßen auf.

Manche Mütter, denen man die Neugeborenen zeigte, schrien vor Entsetzen und Verzweiflung auf. Andere weinten, wußten, daß »mein Sohn nie fähig sein wird, ohne Hilfe zu essen, sich zu waschen, die einfachsten sanitären Dinge zu verrichten, nie fähig sein wird, eine Tür aufzumachen, eine Frau in die Arme zu nehmen oder auch nur seinen Namen selbst zu schreiben«.

Einige Mütter begingen Selbstmord; viele benötigten psychiatrische Hilfe. Ein Vater, der früher fromm gewesen war, verfluchte Gott: »Ich scheiße auf ihn!« Dann korrigierte er sich: »Es gibt keinen Gott. Es kann ihn nicht geben!«

Die Ursache für das Auftreten von Phokomelie blieb weiterhin unbekannt. Eine Studie machte den radioaktiven Abfall von Atombomben dafür verantwortlich, eine andere Untersuchung glaubte, einen Virus entdeckt zu haben.

Manche Babys wiesen außer den fehlenden Gliedmaßen noch andere Mißbildungen auf. Die Ohren fehlten oder waren fehlentwickelt; Herz, Darm und andere Organe waren unvollständig oder nicht funktionsfähig. Einige Babys starben - »die glücklichen«, wie jemand schrieb. Im November 1961 brachten zwei Ärzte - ein Kinderarzt in Deutschland und ein Gynäkologe in Australien - unabhängig voneinander und ohne etwas voneinander zu wissen, die Phokomelie mit dem Arzneimittel Thalidomid in Verbindung. Bald darauf stellte man fest, daß dieses Präparat tatsächlich die Ursache für die Mißbildungen war. Die australi-schen Behörden reagierten sofort und verboten die Anwendung von Thalidomid noch im selben Monat.

In der Bundesrepublik Deutschland und in Großbritannien wurde es einen Monat später aus dem Handel gezogen. In den USA aber dauerte es noch weitere zwei Monate, bis Thalidomid-Kevadon von der FDA verboten wurde. In Kanada blieb dieses Präparat unerklärlicherweise bis März auf dem Markt.

Celia und Andrew, die diese Entwicklung in wissenschaftlichen Publikationen und in den Tageszeitungen verfolgten, sprachen oft darüber. »Ich bin ja so froh, Andrew«, sagte Celia eines Abends beim Essen, »daß du mir nicht erlaubt hast, während der Schwangerschaft irgendwelche Mittel einzunehmen!« Wenige Minuten zuvor hatte sie voller Liebe und Dankbarkeit ihre beiden gesunden und normalen Kinder betrachtet. »Vielleicht hätte ich auch Thalidomid genommen. Es soll Frauen von Ärzten geben, die es getan haben.«

»Ich hatte auch Kevadon«, sagte Andrew ruhig.

»Tatsächlich?«

»Ein Vertreter hat mir Proben gegeben.«

»Aber du hast sie doch nicht verwendet?« fragte Celia erschrocken.

Andrew schüttelte den Kopf. »Ich würde ja gern sagen, daß mir das Mittel von Anfang an verdächtig vorgekommen ist, aber das wäre gelogen. Ich hatte es einfach vergessen.«

»Und wo sind die Proben jetzt?« »Gerade heute sind sie mir wieder eingefallen. Ich hab' sie hervorgeholt, ein paar hundert Tabletten. Irgendwo hab' ich gelesen, daß mehr als zweieinhalb Millionen Tabletten an amerikanische Ärzte verteilt worden sind. Ich habe meine ins Klo geschüttet und runtergespült.«

»Gott sei Dank!«

In den darauffolgenden Monaten trafen ständig neue Hiobsbotschaften über Thalidomid ein. Man schätzte, daß in zwanzig verschiedenen Landern zwanzigtausend mißgebildete Babys geboren worden waren, auch wenn man die genaue Zahl nie erfahren würde.

In den Vereinigten Staaten war die Zahl der phokomel Geborenen niedrig - man schätzte achtzehn oder neunzehn -, weil das Mittel nie zur allgemeinen Verwendung freigegeben worden war. Andernfalls hätte es wahrscheinlich an die zehntausend amerikanische Babys ohne Arme und Beine gegeben.

»Ich schätze, wir schulden alle dieser Mrs. Kelsey Dank«, sagte Andrew an einem Sonntag im ]uli 1962 zu Celia. Er saß in dem gemütlichen Arbeitszimmer, das sie sich teilten, und hatte eine Zeitung um sich herum ausgebreitet.

Dr. Frances Kelsey, eine Mitarbeiterin der FDA, hatte trotz starken Drucks seitens der Arzneimittelfirma, die Thalidomid-Kevadon auf den Markt bringen wollte, die Genehmigung mit bürokratischen Maßnahmen hinausgezögert, um sie zu verhindern. Als sie nun erklärte, sie habe die ganze Zeit aus wissenschaftlichen Gründen die Sicherheit des Mittels angezweifelt, wurde sie zur Nationalheldin gekürt. Präsident Kennedy verlieh ihr die Goldmedaille für hervorragende Dienste, die höchste zivile Auszeichnung des Landes.

»Wenn man das Ergebnis betrachtet«, sagte Celia, »so hat sie durchaus richtig gehandelt, und ich gebe zu, daß ich froh darüber bin. Aber manche behaupten auch, daß sie die Medaille für Nichtstun erhalten habe, dafür, daß sie eine Entscheidung hinausgeschoben hat. Das ist für Bürokraten immer am sichersten, und jetzt behauptet sie, klüger gewesen zu sein, als sie es in Wirklichkeit war. Außerdem befürchtet man, daß durch Kennedys Auszeichnung künftig die Zulassung dringend benötigter Heilmittel von anderen Mitarbeitern der FDA, die auch eine Medaille haben wollen, verzögert werden könnte.«

»Alle Politiker sind Opportunisten«, sagte Andrew, »und Kennedy ist da keine Ausnahme, genausowenig wie Kefauver. Beide machen sich die Publicity von Thalidomid zunutze. Trotzdem benötigen wir eine Art gesetzlicher Regelung für diese Dinge, denn unabhängig davon, was Thalidomid angerichtet hat, es hat deutlich gemacht - so deutlich wie das Amen in der Kirche -, daß eure Branche nicht in der Lage ist, sich selbst zu reglementieren, und daß einiges zum Himmel stinkt.«

Diese Bemerkung bezog sich auf Enthüllungen, die es im Laufe der Untersuchungen bei den für Thalidomid verantwortlichen Arzneimittelfirmen gegeben hatte: Gleichgültigkeit, Gier, Vertuschungen und Inkompetenz waren ans Tageslicht gekommen.

»Das kann wohl niemand mit einigermaßen gesundem Menschenverstand abstreiten«, gab Celia traurig zu.

Überraschenderweise und trotz aller damit verbundenen politischen Manöver kam eine gute Gesetzesvorlage zustande; im Oktober 1962 wurde das Gesetz von Präsident Kennedy unterzeichnet und trat damit in Kraft. Auch wenn es alles andere als vollkommen war und bestimmte Auflagen beinhaltete, die in der Folge dringend benötigten wertvollen neuen Arzneimittel im Wege standen, bot das Gesetz dem Verbraucher dennoch Sicherheiten, die es »v. T.« - in der Zeit »vor Thalidomid« also - nicht gegeben hatte.