Ebenfalls im Oktober erhielt Celia die Nachricht, daß Eli Camper-down, der Präsident von Felding-Roth, der mehrere Monate krank gewesen war, im Sterben lag.
Er hatte Krebs.
Ein paar Tage, nachdem sie es erfahren hatte, ließ Sam Haw-thorne Celia in sein Büro kommen. »Eli hat mitteilen lassen, daß er Sie gern sehen würde. Man hat ihn aus dem Krankenhaus entlassen, und er ist wieder zu Hause. Ich habe veranlaßt, daß man Sie morgen zu ihm bringt.«
Das Haus befand sich fünf Meilen südwestlich von Morristown am Mount Kemble Lake am Ende einer langen Auffahrt und war von Bäumen und dichtem Buschwerk verdeckt; es war groß und alt und mit rauhen Steinen verkleidet, die verwittert und mit einer grünen Patina überzogen waren. Von außen wirkte das Innere düster, und das war es auch.
Ein gebückter älterer Butler ließ Celia ein. Er führte sie in einen mit Stilmöbeln ausgestatteten, überladen wirkenden Salon und forderte sie auf zu warten. Es war still im Haus. Vermutlich des-halb, dachte Celia, weil Eli allein lebte; sie wußte, daß er seit vielen Jahren Witwer war.
Nach einigen Minuten erschien eine Krankenschwester in Schwesterntracht. In dieser Umgebung wirkte sie besonders jung, hübsch und lebhaft. »Würden Sie bitte mitkommen, Mrs. Jordan? Mr. Camperdown erwartet sie.«
»Wie geht es ihm?« fragte Celia, als sie eine breite, geschwungene, mit Teppichen belegte Treppe hinaufstiegen.
»Er ist sehr schwach und hat Schmerzen«, erklärte die Schwester sachlich. »Obwohl wir ihm Beruhigungsmittel geben, die ihm ein wenig helfen. Heute aber wollte er keine. Er sagte, er wolle wach sein.« Oben angekommen, öffnete die Schwester eine Tür und ließ Celia eintreten.
Fast hätte Celia die magere, von Kissen gestützte Gestalt in dem großen Bett nicht erkannt. Eli Camperdown, vor gar nicht langer Zeit noch die Verkörperung von Macht und Stärke, war jetzt ausgezehrt, bleich und gebrechlich - eine Karikatur seiner selbst. Seine in tiefe Höhlen gesunkenen Augen sahen Celia entgegen, das Gesicht verzog sich zu einem schwachen Lächeln. »Es tut mir leid, Mrs. Jordan«, sagte er mit leiser Stimme, »aber Krebs im fortgeschrittenen Stadium ist nicht gerade etwas Schönes. Ich wußte zunächst nicht, ob ich mich Ihnen so zeigen sollte, aber ich wollte Ihnen doch gern ein paar Dinge sagen. Danke, daß Sie gekommen sind.«
Die Schwester brachte einen Stuhl, bevor sie sie allein ließ, und Celia nahm neben dem Bett Platz. »Ich bin froh, daß ich kommen durfte, Mr. Camperdown. Es tut mir nur so leid, daß Sie krank sind.«
»Meine direkten Mitarbeiter nennen mich Eli. Ich würde mich freuen, wenn Sie das auch täten.«
Sie lächelte. »Und ich bin Celia.«
»Ja, ich weiß. Und ich weiß auch, wie wichtig Sie für mich waren, Celia.« Er hob die durchsichtige Hand und deutete auf einen Tisch an der anderen Seite des Zimmers. »Da drüben liegen das >Life<-Magazin und noch ein paar andere Papiere. Würden Sie sie mir bitte bringen?«
Mühsam blätterte Eli Camperdown in der »Life«-Ausgabe, bis er gefunden hatte, was er suchte.
»Vielleicht kennen Sie ihn schon.«
»Den Artikel über Thalidomid mit den Fotos der mißgebildeten Babys? Ja, den hab' ich gesehen.«
Er griff nach den anderen Papieren. »Und hier sind weitere Berichte und Fotos, die zum Teil noch unveröffentlicht sind. Ich habe den Fall genau verfolgt. Es ist schrecklich, nicht wahr?«
»Ja.«
Sie schwiegen, dann sagte er: »Celia, Sie wissen, daß ich sterben werde?«
»Ja, ich weiß«, antwortete sie leise.
»Ich habe die verdammten Ärzte dazu gebracht, es mir zu sagen. Ich habe höchstens noch ein oder zwei Wochen, vielleicht nur noch Tage. Deshalb habe ich sie überredet, mich nach Hause zu bringen. Damit ich hier sterben kann.« Als sie etwas sagen wollte, brachte er sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Hören Sie mich zu Ende an.«
Er machte eine Pause, um sich auszuruhen. Man sah, daß ihn die Anstrengung ermüdete. Dann sprach er weiter.
»Es hört sich egoistisch an, Celia. Und nichts kann diesen armen, unschuldigen Kindern auch nur im geringsten helfen.« Seine Finger berührten die Fotos in der Zeitschrift. »Aber ich bin froh, daß ich sterben kann, ohne das hier auf dem Gewissen zu haben. Und das habe ich allein Ihnen zu verdanken.«
Sie protestierte: »Als ich damals vorschlug . . .«
Er sprach weiter, als habe er sie nicht gehört. »Als Felding-Roth für dieses Mittel im Gespräch war, hatten wir vor, es ganz groß herauszubringen. Wir glaubten, daß es eine tolle Sache würde. Wir wollten es auf breiter Basis testen und dann die FDA unter Druck setzen, damit es schnell genehmigt würde. Vielleicht hätte es geklappt. Wir hätten einen anderen Zeitplan gehabt, es hätte womöglich einen anderen Prüfer gegeben. Diese Dinge laufen nicht immer logisch ab.«
Wieder machte er eine Pause, versuchte, seine Kräfte und Gedanken zu sammeln. »Sie haben uns überredet, es bei alten Men-schen zu testen, und deshalb hat es niemand unter sechzig genommen. Es hat die Erwartungen nicht erfüllt, und wir haben es fallenlassen. Danach wurden Sie, wie ich weiß, kritisiert . . . aber wenn es abgelaufen wäre . . . so, wie wir es anfangs beabsichtigt hatten . . . dann wäre ich verantwortlich . . .« Wieder tasteten seine Finger nach den Fotos im Magazin. »Ich müßte mit dieser schrecklichen Belastung auf dem Gewissen sterben. So wie die Dinge liegen . . .«
Celias Augen standen voller Tränen. Sie nahm seine Hand. »Eli, beruhigen Sie sich.«
Er nickte, seine Lippen bewegten sich, und sie beugte sich zu ihm hinunter. »Celia, ich glaube, Sie besitzen etwas - eine Gabe, einen Instinkt -, um beurteilen zu können, was richtig ist . . . In unserer Branche wird es große Veränderungen geben, Veränderungen, die ich nicht miterleben werde . . . Manche in unserer Firma sind der Meinung, daß Sie zu weit gehen. Das ist gut . . . Daher will ich Ihnen einen Rat geben, meinen letzten Rat . . . Nutzen Sie Ihre Begabung, Celia. Vertrauen Sie Ihrem Instinkt. Und sollten Sie Macht erlangen, dann haben Sie die Kraft, das zu tun, woran Sie glauben . . . Lassen Sie sich von Kleingeistern nichts ausreden . . .«
Seine Stimme versagte, das Gesicht verzog sich vor Schmerzen.
Celia drehte sich um, als sie hinter sich ein Geräusch hörte. Die Krankenschwester hatte leise das Zimmer betreten. Sie trug ein Spritzentablett, das sie neben dem Bett abstellte. Ihre Bewegungen waren schnell und sicher. Sie beugte sich über den Patienten und fragte: »Haben Sie wieder Schmerzen, Mr. Camperdown?« Als er schwach nickte, rollte sie den Ärmel seiner Pyjamajacke hoch und gab ihm eine Spritze. Fast augenblicklich entspannten sich seine Gesichtszüge, und er schloß die Augen.
»Er wird jetzt einschlummern, Mrs. Jordan«, erklärte die Krankenschwester. »Ich glaube, es hat wenig Sinn, wenn Sie noch bleiben.« Sie sah Celia neugierig an. »Konnten Sie Ihr Gespräch zu Ende führen? Es schien ihm wichtig zu sein.«
Celia klappte das »Life«-Magazin zu und legte es zusammen mit den anderen Papieren zurück auf den Tisch.
»Ja«, sagte sie. »Ja, ich glaube schon.«
Obwohl Celia selbst darüber Stillschweigen bewahrte, sickerte etwas über ihre Begegnung mit Eli Camperdown in der Firma durch. Sie stellte fest, daß man sie daraufhin mit einer Mischung aus Neugier, Achtung und gelegentlich sogar Ehrfurcht betrachtete. Niemand, auch Celia nicht, gab sich der Illusion hin, daß eine außergewöhnliche Erkenntnis sie vor fünf Jahren dazu veranlaßt hatte, Felding-Roth zu raten, das Thalidomid zu testen.
Tatsache aber war, daß der Weg, den die Firma eingeschlagen hatte, sie vor einer Katastrophe bewahrt hatte. Und daß Celia dazu beigetragen hatte, sie zu verhindern, war Grund genug, ihr dankbar zu sein.
Eine Person in der Führungsspitze der Firma allerdings verweigerte Celia die Anerkennung. Der Leiter der Forschungsabteilung zog es vor, über seine Rolle bei der Beurteilung des Präparats Stillschweigen zu bewahren, obwohl er ursprünglich zu denen gehörte, die auf Tests mit Thalidomid auf breiter Basis gedrungen hatten. Statt dessen erinnerte er daran, daß er die Entscheidung getroffen habe, das Mittel abzulehnen, nachdem es sich bei den Tests an alten Leuten nicht bewährt hatte. Das war zwar richtig, stellte die Situation jedoch unvollkommen dar.