Für lange Diskussionen war indes keine Zeit. Zwei Wochen, nachdem Celia ihn besucht hatte, starb Eli Camperdown. Am folgenden Tag, dem 8. November 1962, standen respektvolle Nachrufe in den Zeitungen, allerdings kürzere als die auf Mrs. Eleanor Roosevelt, die tags zuvor gestorben war. »Es sieht fast so aus«, bemerkte Celia zu Andrew, »als wären zwei unterschiedliche Abschnitte der Geschichte gemeinsam zu Ende gegangen -und an dem bescheideneren durfte ich teilhaben.«
Der Tod des Felding-Roth-Präsidenten löste Veränderungen innerhalb der Firmenleitung aus; dadurch, daß der Aufsichtsrat einen neuen Präsidenten bekam, kletterten auch andere Mitarbeiter auf der Leiter des Erfolgs eine Stufe nach oben. Zu ihnen gehörte Sam Hawthorne, der Vizepräsident und Verkaufsleiter für den Inlandsbereich wurde, während Teddy Upshaw zu seiner großen Freude den Posten des Verkaufsleiters für rezeptfreie Produkte erhielt, die von Bray & Commonwealth, einer Tochtergesellschaft, vertrieben wurden. »Eine tolle Chance für die Rezeptfreien, endlich einen gescheiten Umsatz zu machen«, erklärte Teddy aufgeregt, als er Celia von seiner bevorstehenden Versetzung erzählte. »Ich habe vorgeschlagen, Sie zu meiner Nachfolgerin zu machen«, fuhr er fort, »aber ich muß gestehen, daß es noch immer einige gibt, die von der Idee einer Leiterin nicht gerade begeistert sind. Um ganz ehrlich zu sein: das war früher auch meine Meinung, aber Sie haben mich gründlich bekehrt.«
Es vergingen noch ganze acht Wochen, in denen Celia alle Funktionen des Abteilungsleiters für Verkaufstraining ausübte, ohne den Titel zu besitzen. Ihre Frustration über diese ungerechte Behandlung wuchs von Tag zu Tag. Eines Morgens Anfang Januar kam dann Sam Hawthorne unangemeldet und strahlend in ihr Büro und rief: »Wir haben's geschafft! Es kam zwar einem Dolchstoß gleich, und es ist Blut geflossen, aber jetzt ist es soweit: Sie sind die Leiterin dieses Bereichs, und was noch wichtiger ist, Celia, Sie befinden sich damit offiziell auf der >Renn-bahn<.«
TEIL ZWEI
1963-1975
1
Bei Felding-Roth auf der »Rennbahn« zu sein bedeutete - wie bei anderen Firmen auch -, als Kandidat für das oberste Management auserkoren zu sein und bessere Chancen als üblich zu bekommen, das Geschäft kennenzulernen und sich zu bewähren. Natürlich schaffte es nicht jeder bis ins Ziel; denn es waren auch noch andere auf der Strecke. Die Konkurrenz war stark.
Celia war sich über all dies im klaren. Und sie wußte auch, daß sie als Frau die zusätzliche Hürde der Vorurteile überwinden mußte. Aber das spornte sie nur noch mehr an.
Um so bedauerlicher war es, daß sich die sechziger Jahre als eine »Durststrecke« erwiesen, die keine großen Neuerungen auf dem Gebiet rezeptpflichtiger Arzneimittel brachten.
»Das hat es früher auch schon gegeben«, erklärte Sam Hawthorne, als Celia darauf zu sprechen kam. »Wir haben zwei Jahrzehnte der >Wundermittel< hinter uns - Antibiotika, neue Herzmittel, die Pille, Tranquilizer und all das andere - und befinden uns jetzt in einer Flaute vor dem nächsten großen Durchbruch.«
»Und wie lange wird die Flaute andauern?«
Sam rieb sich nachdenklich den kahlen Kopf. »Wer will das wissen? Zwei Jahre, oder auch zehn. Inzwischen verkauft sich unser Lotromycin gut, und wir verbessern laufend bereits vorhandene Präparate.«
»Damit meinen Sie die sogenannten >Trittbrett<-Produkte, nicht wahr?« erwiderte Celia spitz. »»Molekulares Roulette< spielen - indem wir erfolgreiche Mittel unserer Konkurrenz gerade so weit abwandeln, daß man uns eine Verletzung von Patenten nicht anhängen kann . . .«
Sam zuckte die Achseln. »Wenn Sie sich unbedingt der Sprache unserer Kritiker bedienen wollen, bitte.«
»Apropos Kritiker - werfen die uns nicht gerade vor, die Forschung mit >Trittbrett<-Produkten lahmzulegen, statt unsere Kräfte für positivere, nützlichere Dinge einzusetzen?«
»Und Sie sollten sich endlich klarmachen, daß wir wegen allem und jedem kritisiert werden.« Sams Stimme war eine Spur schärfer geworden. »Vorwiegend von Leuten, die nicht wissen oder nicht wissen wollen, daß die sogenannten >Trittbrett<-Produkte Firmen wie die unsere über Wasser halten, wenn sich in der Wissenschaft nichts tut. Pausen hat es schon immer gegeben. Wissen Sie eigentlich, daß es nach der ersten erfolgreichen Pockenimpfung hundert Jahre gedauert hat, bis die Wissenschaftler herausfanden, warum sie erfolgreich war?«
So deprimiert Celia durch die Unterhaltung auch war, sie entdeckte, daß die anderen pharmazeutischen Firmen eine ebensolche Durststrecke durchmachten und nichts Neues oder gar Aufsehenerregendes herausbrachten. Es war ein Phänomen, das die gesamte Branche erfaßt hatte und das - obwohl es zu dieser Zeit noch niemand ahnte - bis in die siebziger Jahre anhalten und Sams Voraussagen am Ende bestätigen sollte.
»Ich habe Sie rufen lassen«, sagte Sam eines Nachmittags im November 1962 zu Celia, als sie sich in seinem mit Eiche getäfelten Büro gegenübersaßen, »um Ihnen mitzuteilen, daß Sie eine neue Aufgabe erhalten werden, was übrigens mit einer Beförderung verbunden ist.«
Celia schwieg abwartend. Als Sam nicht weitersprach, stieß sie einen Seufzer aus und lächelte.
»Sie wissen genau, daß ich vor Neugier sterbe, aber Sie wollen mich dazu bringen zu fragen, also tu ich's. Okay, Sam: Was für einen Job bekomme ich?«
»Geschäftsführerin für rezeptfreie Produkte bei Bray & Commonwealth. Teddy Upshaw, Ihr früherer Chef, wird Ihnen jetzt Bericht erstatten.« Sam lächelte. »Ich hoffe, Sie sind glücklich darüber, Celia.«
»O ja, das bin ich! Das bin ich wirklich, Sam. Vielen Dank!«
Er sah sie verschmitzt an. »Entdecke ich da etwa neben der gro-ßen Begeisterung eine Spur Reserviertheit?«
»Nicht Reserviertheit.« Celia schüttelte entschieden den Kopf. »Es ist bloß, daß . . . also, eigentlich habe ich vom Geschäft mit rezeptfreien Produkten überhaupt keine Ahnung.«
»Da stehen Sie nicht allein«, sagte Sam. »Ich hatte dasselbe Problem, bevor ich ein paar Jahre im rezeptfreien Bereich arbeitete. In gewisser Hinsicht ist es, als würde man in ein fremdes Land reisen.« Er zögerte. »Oder die Grenze zu einem anderen Stadtteil überschreiten.«
»Dem weniger angesehenen Teil?«
»Könnte sein.«
Sie wußten beide, daß Felding-Roth wie auch die anderen großen pharmazeutischen Firmen zwischen dem Geschäftsbereich, der die rezeptpflichtigen Mittel betraf und Ansehen genoß, und dem Bereich für rezeptfreie Produkte, von dem man das nicht immer behaupten konnte, eine deutliche Trennlinie zog. Beide Seiten operierten völlig unabhängig voneinander. Jede Seite besaß ihre eigene Verwaltung und ihre eigene Forschungs- und Verkaufsabteilung; es gab keinerlei Verbindung zwischen den beiden.
Wegen dieser Politik der Trennung behielt Felding-Roth den Namen Bray & Commonwealth bei - eine ehemals kleine unabhängige Pharma-Firma, die vor Jahren von Felding-Roth aufgekauft worden war und sich jetzt ausschließlich mit rezeptfreien Produkten befaßte. Nach außen hin bestand zwischen Bray & Commonwealth und Felding-Roth Pharmaceuticals keine Verbindung, was der Mutterfirma auch lieber war.
»Bray & Commonwealth wird für Sie eine neue Erfahrung sein«, sagte Sam zu Celia. »Sie werden lernen, sich um Hustensäfte, Hämorrhoidensalben und Haarshampoos zu kümmern. Die rezeptfreien Produkte sind ein Teil des gesamten Arzneimittelmarktes - ein großer Teil, und sie bringen einen Haufen Geld ein. Deshalb müssen Sie sich auch in diesem Geschäft auskennen. Und, Celia, Sie werden wohl für eine Weile Ihr kritisches Denken ablegen müssen.«