»Würden Sie mir das bitte näher erklären?« bat Celia erstaunt.
»Das werden Sie schon selbst herausfinden.«
Celia beschloß, nicht nachzuhaken.
»Und noch etwas«, fuhr Sam fort. »Bei Bray & Commonwealth hat sich in letzter Zeit nichts bewegt, neue Initiativen, neue Ideen sind bitter nötig.« Er lächelte. »Vielleicht die Ideen einer starken, phantasievollen, gelegentlich aufmüpfigen Frau ... Ja, was ist?« Die letzte Bemerkung galt seiner Sekretärin, einer attraktiven jungen Farbigen, die in der offenen Tür stand.
Als sie nicht gleich antwortete, sagte Sam mürrisch: »Maggie, ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich nicht . . .« »Warten Sie!« sagte Celia. Sie hatte etwas bemerkt, was Sam offenbar entgangen war: über das Gesicht der Sekretärin liefen Tränen. »Maggie, was ist denn?«
Das Mädchen konnte nur mit Mühe sprechen, ihre Worte wurden immer wieder von Schluchzern unterbrochen. »Der Präsident ist . . . Präsident Kennedy wurde erschossen ... in Dallas . . . es ist alles aus . . . im Radio.«
Mit dem Ausdruck ungläubigen Entsetzens schaltete Sam Hawthorne hastig das Radio neben seinem Schreibtisch ein.
Wie die meisten ihrer Generation konnte Celia sich später ganz genau daran erinnern, wo sie in jenem schrecklichen Augenblick gewesen war und was sie gerade getan hatte. Es war der Auftakt einer Reihe von apokalyptischen Tagen, einer Zeit enttäuschter Hoffnungen und tiefer Niedergeschlagenheit. Ob Camelot Wirklichkeit gewesen war oder nur Illusion, es herrschte das Gefühl, als sei etwas für immer verloren, als gäbe es nichts von Bestand, als sei alles unwichtig geworden - für Celia, zum Beispiel, ihre persönlichen Ambitionen und die Gespräche über ihren neuen Job. Die Lücke schloß sich jedoch wieder, und das Leben ging weiter.
Celias neuer Arbeitsplatz bei Bray & Commonwealth Inc. befand sich in einem schlichten vierstöckigen Ziegelgebäude, eineinhalb Meilen vom Sitz der Muttergesellschaft entfernt. In ihrem bescheidenen, aber behaglichen Büro traf sie sich etwa zwei Wochen später mit Teddy Upshaw, dem Verkaufsleiter der Zweigstelle, um sich einen Überblick über die rezeptfreien Produkte zu verschaffen.
Während der vergangenen Woche hatte sich Celia in Akten vertieft und Bilanzen, Statistiken, Forschungsberichte und Personalakten studiert, die alle mit ihrer neuen Arbeit zu tun hatten. Beim Lesen wurde ihr klar, daß Sam Hawthorne recht gehabt hatte: Der Geschäftsbereich hatte sich unter einer phantasielosen Führung festgefahren. Es bedurfte dringend neuer Initiativen und Ideen.
»Ich habe eine direkte Frage, Teddy«, begann Celia ihr Gespräch mit Upshaw. »Ärgern Sie sich, weil ich auf diesem Stuhl hier sitze und Sie mir Bericht erstatten müssen? Macht es Ihnen etwas aus, daß unsere Positionen plötzlich vertauscht sind?«
Der wendige kleine Verkaufschef schien überrascht. »Ob es mir etwas ausmacht? Mein Gott, Celia, ich kann mich gar nicht genug darüber freuen! Wir brauchen jemanden wie Sie. Als ich hörte, daß Sie herkämen, hätte ich am liebsten hurra gerufen. Fragen Sie meine Frau! An dem Abend, als ich die Neuigkeit erfuhr, haben wir auf Ihr Wohl getrunken.« Teddy unterstrich seine Bemerkungen mit lebhaftem Kopfnicken. »Ob ich mich ärgere? Nein, meine Liebe, ich bin nur ein Verkäufer - ein verdammt guter, doch mehr werde ich nie sein. Sie aber haben das Zeug dazu, mir etwas in die Hand zu geben, das besser ist als alles, was wir bisher hatten.«
Celia war gerührt. »Vielen Dank, Teddy«, sagte sie. »Ich mag Sie auch. Wir könnten uns gegenseitig helfen.«
»Ganz meine Meinung.«
»Sie kennen beide Bereiche«, sagte sie. »Rezeptpflichtige und rezeptfreie Produkte. Sagen Sie mir, wo für Sie der Unterschied liegt.«
»Der ist ziemlich grundlegend. Die rezeptfreien Mittel sind meist taube Nüsse.« Teddy warf einen Blick auf die Akten, die überall im Büro verstreut waren. »Schätze, das haben Sie schon an den Kosten gemerkt.«
»Ja, aber ich würde gern Ihre Meinung dazu hören.«
Er sah sie fragend an. »Vertraulich? Ohne jede Einschrän-kung?«
Sie nickte. »Das wäre mir am liebsten.«
»Na schön. Dann betrachten Sie es mal folgendermaßen: Wie wir beide wissen, verschlingt die Forschung für ein rezeptpflichtiges Mittel Millionen, und es dauert fünf, sechs Jahre, bis es vermarktet werden kann. Bei einem rezeptfreien Produkt genügen sechs Monate oder weniger, um das Zeug auf eine Formel zu bringen, und die Kosten sind denkbar gering. Das meiste Geld geht für Verpackung, Werbung und Verkauf drauf.«
»Teddy«, sagte Celia. »Sie haben ein Talent, die Dinge beim Namen zu nennen.«
Er zuckte die Achseln. »Ich mache mir nichts vor. Was wir hier verkaufen, stammt nicht von Louis Pasteur.«
»Aber trotzdem steigt allgemein der Absatz rezeptfreier Produkte immer mehr an.«
»Mit dem Tempo einer gottverdammten Rakete! Weil es die amerikanische Öffentlichkeit so will, Celia. Leute, denen irgendwas fehlt - meist ein kleines Wehwehchen, das mit der Zeit von alleine verschwinden würde, wenn sie so klug wären, es in Ruhe ausheilen zu lassen -, diese Leute wollen irgend etwas tun. Sie möchten gern selbst Doktor spielen, und hier treten wir auf den Plan. Wenn die Rakete also aufsteigt, warum sollten wir uns dann nicht alle - Felding-Roth, Sie und ich - dranhängen?« Er machte eine Pause, dachte nach und sprach dann weiter. »Das einzige Problem im Augenblick ist nur, daß wir nicht richtig zugepackt haben, so daß wir den uns zustehenden Marktanteil nicht kriegen.«
»Das mit dem Marktanteil finde ich auch«, sagte Celia, »aber ich glaube, das ließe sich ändern. Und was die rezeptfreien Mittel selbst betrifft, so sind sie bestimmt ein bißchen effektiver, als Sie behaupten.«
Teddy hob die Hände. »Vielleicht ein bißchen, aber viel bestimmt nicht. Es gibt ein paar gute Mittel - zum Beispiel Aspirin. Und was die anderen betrifft: die Hauptsache ist, daß die Leute sich wohl fühlen, auch wenn sie sich das nur einbilden.«
»Aber verschaffen nicht ein paar von den landläufigen Mitteln gegen Erkältung, zum Beispiel, Erleichterung über die Einbildung hinaus?«
»Nein!« Teddy schüttelte mit Nachdruck den Kopf. »Da können Sie jeden guten Arzt fragen. Fragen Sie Andrew. Wenn Sie oder ich eine Erkältung kriegen, was sollten wir dann am besten tun? Ich will es Ihnen sagen: nach Hause gehen, die Füße hochlegen, ausruhen, viel trinken und ein paar Aspirin nehmen. Das ist alles, was man tun kann - bis die Wissenschaft ein wirkliches Heilmittel gegen Erkältung findet; aber bis dahin ist wohl noch ein weiter, mühsamer Weg.«
Obgleich die Sache ernst war, mußte Celia lachen. »Sie nehmen wohl nie etwas gegen Erkältung?«
»Niemals. Aber zum Glück gibt es eine Menge Leute, die es tun. Ganze Armeen hoffnungsvoller Menschen, die Jahr für Jahr eine halbe Milliarde Dollar ausgeben und vergeblich versuchen, ihre Erkältungen zu kurieren. Und Sie und ich, Celia - wir werden ihnen alles verkaufen, was sie haben wollen, und das Schöne daran ist, daß ihnen nichts davon auch nur im geringsten schaden wird.« In Teddys Stimme schwang Vorsicht, als er hinzufügte: »Natürlich wissen Sie, daß ich so was nie laut sagen würde. Ich tue es jetzt nur, weil Sie mich gefragt haben. Wir sind ja unter uns und vertrauen einander.«
»Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Teddy«, sagte Celia.
»Aber wenn das Ihre Meinung ist, macht es Ihnen dann gar nichts aus, hier zu arbeiten?«
»Die Antwort lautet: nein, und zwar aus zwei Gründen. Erstens ist es nicht meine Sache, über etwas zu richten. Ich nehme die Welt, wie sie ist, und nicht so, wie die Träumer glauben, daß sie sein müßte. Und zweitens muß es schließlich jemanden geben, der das Zeug verkauft, also kann es genausogut Teddy Upshaw sein.« Er sah Celia forschend an. »Aber Sie beunruhigt es, nicht wahr?«