»Ja«, gab sie zu. »Gelegentlich.«
»Hat man Ihnen gesagt, wie lange Sie bei Bray & Commonwealth bleiben werden?«
»Nein, ich nehme an, für immer.«
»Die werden Sie auf keinen Fall hierbehalten«, versicherte Teddy. »Sie werden diesen Job hier vermutlich ein Jahr lang machen und dann weiter aufrücken. Stehen Sie's also durch, Baby! Am Ende wird es sich gelohnt haben.«
»Vielen Dank, Teddy«, sagte Celia. »Ich werde Ihren Rat nicht vergessen, allerdings habe ich vor, ein bißchen mehr zu tun, als es einfach nur durchzustehen.«
Trotz ihrer Doppelbelastung als berufstätige Ehefrau und Mutter hatte Celia beschlossen, niemals ihre Familie zu vernachlässigen - vor allem nicht ihre Kinder: Lisa, die jetzt fünf war, und den dreijährigen Bruce. An den Wochentagen verbrachte sie abends zwei Stunden mit ihnen - ein Ritual, an dem sie festhielt, wie wichtig die Akten auch sein mochten, die sie mitgebracht hatte.
Am Abend nach dem Gespräch mit Teddy führte Celia das fort, was sie vor ein paar Tagen begonnen hatte - sie las Lisa und Bruce etwas aus Alice im Wunderland vor.
An diesem Abend war Bruce stiller als sonst - er sah aus, als würde er eine Erkältung bekommen; seine Nase lief. Lisa hörte wie immer hingerissen zu, als die Mutter vorlas, wie Alice an einer kleinen Tür wartete, die in einen wunderschönen Garten führte; die Tür war für Alice zu klein, und sie hoffte . . .
. . . einen Schlüssel zu finden oder wenigstens eine Anweisung über das fernrohrartige Zusammenschieben von Menschen. Statt dessen entdeckte sie diesmal eine kleine Flasche auf dem Tisch (die, wie Alice behauptete, vorher bestimmt noch nicht dagewesen war). Ein Papier-Etikett war an dem Flaschenhals befestigt, und darauf stand in großen, schönen Druckbuchstaben: »trink mich«.
Celia legte das Buch zur Seite, um Bruce die Nase zu putzen, dann las sie weiter.
Das Etikett hatte leicht reden: »Trink mich«, die kluge kleine Alice aber dachte nicht daran, diesem Befehl blindlings zu fol-gen. »Zuerst will ich einmal nachsehen«, sagte sie, »ob nicht auch irgendwo >Gift< draufsteht.« . . .
So hatte Alice auch den Satz nicht vergessen: »Wenn du viel aus einer Flasche trinkst, auf der >Gift< steht, wird es dir früher oder später schlecht bekommen.«
Auf dieser Flasche stand jedoch nirgends »Gift«, und so wagte Alice, ein wenig daran zu nippen. Und siehe da, es schmeckte gut, wie eine Mischung aus Kirschkuchen, Pudding, Ananas, Gänsebraten, Sahnebonbons und Butterbrötchen. So hatte sie bald alles ausgetrunken.
»Was für ein komisches Gefühl«, sagte Alice, »ich glaube, ich klappe wie ein Fernrohr zusammen.«
Und so war es auch. Schon maß sie nur noch 30 Zentimeter . . .
Lisa unterbrach sie: »Sie hätte es nicht trinken sollen, nicht wahr?«
»Nicht im wirklichen Leben«, sagte Celia, »aber das ist nur eine Geschichte.«
»Ich finde trotzdem, sie hätte es nicht trinken sollen«, sagte Lisa mit fester Stimme. Sie hatte schon jetzt eine starke eigene Meinung.
»Du hast völlig recht, Liebling«, sagte Andrew hinter ihnen fröhlich; er war leise und unbemerkt ins Zimmer gekommen. »Man soll nie etwas trinken, von dem man nicht genau weiß, was es ist, außer, der Arzt verschreibt es einem.« Alle lachten, und die Kinder umarmten Andrew stürmisch. »Und jetzt«, sagte Andrew, »verschreibe ich uns einen Martini zum Ende des Tages. Leistest du mir Gesellschaft?« fragte er Ce-lia. »Gern.«
»Daddy«, sagte Lisa, »Bruce hat eine Erkältung. Kannst du nicht machen, daß sie weggeht?« »Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil ich kein Erkältungsdoktor bin.« Er hob sie hoch und drückte sie an sich. »Fühl mal! Ich bin ein Erwärmungsdoktor.«
Lisa kicherte. »Ach, Daddy.«
»Komisch«, sagte Celia. »Fast dasselbe Gespräch hatte ich heute schon mal.«
Andrew stellte Lisa wieder auf den Boden und begann Martinis zu mixen. »Was für ein Gespräch?«
»Das erzähl ich dir beim Essen.« Celia stellte Alice bis zum nächsten Tag ins Regal zurück und brachte die Kinder ins Bett. Aus der Küche roch es nach Lamm mit Curry, während Winnie August nebenan im Eßzimmer für Andrew und Celia den Tisch deckte. Womit habe ich das nur verdient, dachte Celia, daß mein Leben so wunderbar befriedigend und glücklich ist?
»Teddy hat völlig recht. Es ist absolut sinnlos, Erkältungen mit etwas anderem als Flüssigkeit, Ruhe und Aspirin zu behandeln«, sagte Andrew, nachdem Celia ihm von der Unterhaltung in ihrem Büro erzählt hatte.
Sie waren mit dem Abendessen fertig und tranken im Wohnzimmer einen Kaffee. »Ich sage meinen Patienten immer, wenn sie eine Erkältung haben und sie behandeln, dauert sie sieben Tage. Und wenn sie sie nicht behandeln, dauert sie eine Woche.«
Celia lachte, und Andrew stocherte in dem Holzfeuer, das er im Kamin angezündet hatte.
»Aber Teddy irrt sich«, sagte Andrew, »was die sogenannten Erkältungsmittel betrifft - daß sie keinen Schaden anrichten. Viele davon sind schädlich, manche sogar gefährlich.«
»Naja«, widersprach sie. »>Gefährlich< ist ja wohl übertrieben.«
»Das ist es nicht!« sagte er mit Nachdruck. »Wenn man versucht, eine Erkältung zu heilen, kann man dabei andere Leiden veschlimmern.« Andrew ging zum Regal und zog mehrere Bücher heraus, in denen Papierstreifen steckten. »Ich habe in letzter Zeit einiges darüber gelesen.« Er blätterte in einem der Bücher.
»Die meisten Mittel gegen Erkältungen«, sagte Andrew, »be-stehen aus einem Gemisch von Substanzen. Eine davon heißt Phenylephrine und soll dazu dienen, den Blutandrang zu verringern und eine verstopfte Nase wieder freizumachen. Meistens hilft das Phenylephrine überhaupt nicht - es reicht nicht aus, um wirksam zu sein -, erhöht aber statt dessen den Blutdruck, was für jeden schädlich ist, gefährlich aber für den, der bereits einen hohen Blutdruck hat.«
Er deutete auf ein Blatt mit Notizen. »Einfaches, unverfälschtes Aspirin, darüber sind sich fast alle medizinischen Forscher einig, ist das beste gegen Erkältungen. Aber von Aspirin gibt es Kombinationspräparate, für die stark geworben wird und die viel gekauft werden. Sie enthalten häufig zusätzlich Phenazetin, das zu Nierenschäden führen kann, die nicht wiedergutzumachen sind, wenn das Präparat zu häufig und zu lange eingenommen wird. Außerdem enthalten Tabletten gegen Erkältungen auch Antihistamine - und die fördern Bronchialschleim. Es gibt Nasentropfen und Nasensprays, die eher schädlich als hilfreich sind . . .« Andrew unterbrach sich. »Soll ich fortfahren?«
»Nein«, sagte Celia und seufzte. »Ich kann mir schon ein Bild machen.«
»Alles läuft darauf hinaus«, sagte Andrew, »daß man, wenn man nur genügend Werbung macht, die Leute dazu bringen kann, alles zu glauben und alles zu kaufen.«
»Aber Erkältungsmittel helfen bei einer Erkältung«, protestierte sie. »Das sagen jedenfalls viele.«
»Sie glauben nur, daß sie helfen. Vielleicht wird die Erkältung von selbst besser. Oder sie war psychisch bedingt.« Während Andrew die Bücher ins Regal zurückstellte, mußte Celia an etwas denken, was ein anderer Arzt, ein älterer praktischer Arzt, einmal zu ihr gesagt hatte, als sie noch Vertreterin war. »Wenn zu mir Patienten kommen, die über eine Erkältung klagen, gebe ich ihnen Beruhigungsmittel - harmlose kleine Zuk-kertabletten. In ein paar Tagen kommen sie zurück und sagen: >Die Pillen haben Wunder bewirkt; die Erkältung ist weg.<« Der alte Arzt hatte Celia angesehen und in sich hineingekichert. »Und tatsächlich ist sie dann auch weg.« In dieser Erinnerung und in Andrews Bemerkungen lag etwas Wahres, und Celia war deprimiert. Ihre neue Aufgabe öffnete ihr die Augen für Dinge, von denen sie lieber nichts gewußt hätte. Was wurde aus ihren Wertbegriffen, überlegte sie. Ihr wurde klar, was Sam meinte, als er zu ihr gesagt hatte: »Sie werden wohl für eine Weile Ihr kritisches Denken ablegen müssen.« Würde es tatsächlich nötig sein? Konnte sie das überhaupt? Und sollte sie es tun? Während ihr diese Fragen noch durch den Kopf gingen, öffnete sie ihre Aktentasche und breitete die Papiere vor sich aus. In ihrer Tasche befand sich auch etwas, das Celia ganz vergessen hatte - eine Musterpackung des Bray & Commonwealth-Produkts Healthotherm, ein rezeptfreies Mittel zur Einreibung der Brust bei Erkältungen von Kindern, das vor zwanzig Jahren eingeführt worden war und sich noch immer gut verkaufte; es hatte einen kräftigen, würzigen Geruch und wurde in der Werbung als »belebend« angepriesen. Celia hatte es mit nach Hause gebracht, weil sie wußte, daß Bruce erkältet war, und hatte die Absicht gehabt, es bei ihm anzuwenden. Jetzt fragte sie Andrew: »Soll ich?«