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»Großer Gott!« Bei dem letzten Satz war der Verwaltungsdirektor blaß geworden. »Könnten Sie nicht wenigstens diesen letzten Punkt aus dem Spiel lassen, Andrew?«

»Das kann ich nicht und das werde ich nicht! Ich verlange von Ihnen, daß Sie sofort etwas unternehmen. Etwas, das Sie schon vor vier Jahren hätten unternehmen sollen, als wir beide wußten, was vorging, Sie es aber vorzogen, den Mund zu halten und die Augen zu verschließen.«

»Ich muß etwas unternehmen«, brummte Leonard Sweeting. »Rechtlich habe ich nach dem, was Sie mir gesagt haben, keine andere Wahl. Aber was die Vergangenheit betrifft, so weiß ich von nichts.«

»Sie lügen«, sagte Andrew, »und wir beide wissen das. Aber ich werde es übergehen, denn damals war ich genauso feige wie Sie. Mich interessiert nur, was jetzt ist.«

Der Verwaltungsdirektor stieß einen Seufzer aus. Halb zu sich selbst sagte er: »Das mußte ja mal kommen.«

Dann ging er zu seinem Schreibtisch und nahm den Telefonhörer ab.

»Versuchen Sie, den Vorsitzenden des Verwaltungsrats zu erreichen«, wies er seine Sekretärin an, »was auch immer er gerade tut - sagen Sie seinen Leuten, es ist dringend. Wenn das erledigt ist, berufen Sie eine Versammlung des Ärztekomitees ein. Das Treffen findet umgehend im Sitzungssaal statt.« Sweeting warf einen Blick auf die Uhr. »Die meisten Abteilungschefs müßten jetzt im Hause sein.«

Als der Verwaltungsdirektor den Hörer auflegte, verzog er angestrengt das Gesicht. »Das ist ein schlimmer Tag für uns alle, Andrew. Aber ich weiß, daß Sie getan haben, was Sie glaubten, tun zu müssen.«

Andrew nickte düster. »Was geschieht als nächstes?«

»In wenigen Minuten wird das Ärztekomitee zusammentreten. Man wird Sie hereinrufen. Warten Sie solange hier.«

Irgendwo erklang eine Mittagssirene.

Er hatte schon viel zu lange gewartet, überlegte Andrew mutlos. Er hatte gewartet, bis ein Patient - ein junger Patient, der vielleicht noch viele Jahre hätte leben können - gestorben war.

Nachdem er vor vier Jahren und acht Monaten entdeckt hatte, daß Noah Townsend rauschgiftsüchtig war, hatte Andrew, so gut er konnte, den älteren Arzt beobachtet - um sich zu vergewissern, daß es zu keinen Fehldiagnosen kam. Und obwohl seiner Beobachtung Grenzen gesetzt waren, konnte er beruhigt feststellen, daß sich Noah kein ernsthaftes Fehlverhalten zuschulden kommen ließ.

Als würde er die Sorgen seines Kollegen ahnen, sprach Noah häufig seine schwierigen Fälle mit Andrew durch, und dabei zeigte es sich, daß die diagnostischen Fähigkeiten des älteren Arztes unter dem Einfluß der Drogen nicht gelitten hatten.

In anderer Hinsicht aber wurde Dr. Townsend immer sorgloser. Er gab sich kaum noch Mühe, die Tabletteneinnahme vor Andrew zu verbergen, und wies in zunehmendem Maße Merkmale eines Drogensüchtigen auf - verschwommene Augen, undeutliche Aussprache, zitternde Hände -, sowohl in der Praxis als auch im St. Bede's Hospital. In seiner Praxis ließ er Dutzende von Ärztemustern herumliegen, machte sich nicht einmal die Mühe, sie wegzuräumen, und bediente sich davon - auch wenn Andrew bei ihm war -, als wären es Bonbons.

Manchmal fragte sich Andrew, wie Townsend es fertigbrachte, ständig unter Drogen zu stehen und trotzdem nach außen hin noch so gut zu funktionieren. Das machte die Gewohnheit, vermutete er, und der Instinkt. Noah übte den Arztberuf so viele Jahre aus, daß ihm selbst schwierige Diagnosen leichtfielen. In gewisser Hinsicht, dachte Andrew, glich Noah einer defekten Maschine, die aus eigenem Antrieb weiterlief. Aber die Frage war: Wie lange noch?

Niemand im St. Bede's schien Andrews Sorgen zu teilen. 1961 aber - ein Jahr nach Andrews Entdeckung und dem ersten Gespräch mit Leonard Sweeting - trat Noah Townsend als Chefarzt zurück und auch aus dem Vorstand des Krankenhauses aus. Ob Townsend von selbst auf die Idee gekommen war oder ob man es ihm nahegelegt hatte, wußte Andrew nicht. Von diesem Zeitpunkt an zog sich Townsend auch mehr und mehr aus dem gesellschaftlichen Leben zurück. Und in der Praxis verringerte er die Zahl seiner Patienten, indem er Neuzugänge meist an Andrew und Oscar Aarons, einen jungen Doktor, der in ihre Praxis eingetreten war, verwies.

Von Zeit zu Zeit machte sich Andrew zwar Sorgen um Noah und seine Patienten, aber da das Problem nicht aktuell zu sein schien, unternahm er nichts und gab sich dem Wunschdenken hin, daß schon nichts passieren würde.

Bis zur letzten Woche.

Dann geschah alles ganz plötzlich und unerwartet.

Zunächst hatte Andrew nur unvollständige Informationen erhalten. Aber nachdem er mißtrauisch geworden war und Fragen gestellt hatte, konnte er die Ereignisse bald in den richtigen Zusammenhang bringen.

Alles hatte Dienstag nachmittag begonnen.

Kurt Wyrazik, ein neunundzwanzigjähriger Mann, war in Dr. Townsends Praxis gekommen und hatte über einen rauhen Hals, Übelkeit, Husten und Fieber geklagt. Die Untersuchung zeigte, daß sein Hals entzündet war; er hatte 39° Fieber, und sein Atem ging schnell. Die auskultatorische Untersuchung ergab, wie sich Noah Townsends Aufzeichnungen entnehmen ließ, abgeschwächtes Atemgeräusch, Rasseln in der Lunge und ein reibendes Geräusch in der Rippengegend. Er tippte auf Lungenentzündung und wies Wyrazik ins St. Bede's Hospital ein, wo er ihn sich noch am selben Tag genauer ansehen wollte.

Wyrazik war ihm als Patient bekannt. Er hatte schon mehrmals die Praxis aufgesucht, das erste Mal vor drei Jahren. Damals hatte er ebenfalls einen entzündeten Hals gehabt, und Townsend hatte ihm hin und wieder eine Penicillinspritze gegeben.

In den Tagen nach der Spritze besserte sich Wyraziks Hals, aber er bekam einen juckenden Hautausschlag, der anzeigte, daß er gegen Penicillin allergisch war. Dr. Townsend machte sich eine entsprechende rot unterstrichene Notiz in seiner Patientenkartei.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Wyrazik nichts von seiner Penicillinallergie gewußt.

Beim zweiten Mal, als Wyrazik mit geringfügigen Beschwerden in die Praxis kam, war Noah Townsend gerade nicht anwesend, und Andrew untersuchte ihn. Als er die Aufzeichnungen durchlas, fiel ihm der Hinweis auf die Penicillinallergie ins Auge.

Aber das hatte zu diesem Zeitpunkt keine Bedeutung, da Andrew ihm kein Medikament verschrieb.

Das war vor etwa anderthalb Jahren gewesen - und das letzte Mal, daß er Wyrazik lebend sah.

Wyrazik wurde im St. Bede's Hospital in ein Krankenzimmer zu drei weiteren Patienten gelegt. Bald danach wurde er von einem Stationsarzt untersucht, der seine Krankengeschichte aufnahm. Das geschah routinemäßig. Eine der Fragen, die der Arzt stellte, lautete: »Sind sie gegen irgend etwas allergisch?« Wyrazik erwiderte: »Ja - gegen Penicillin.« Frage und Antwort wurden im Krankenblatt notiert.

Dr. Townsend hielt sein Versprechen und suchte Wyrazik später im Krankenhaus auf, zuvor aber telefonierte er mit dem St. Bede's Hospital und verordnete dem Patienten Erythromycin. Der Stationsarzt befolgte diese Anweisung. Da die Patienten bei Lungenentzündung in der Regel Penicillin bekamen, mußte Townsend die Allergiewarnung in seiner Kartei gelesen oder sich daran erinnert haben.

Kurt Wyrazik war Leiter einer Versandabteilung, ein stiller, bescheidener Mann. Er lebte allein und war in jeder Hinsicht ein »Einzelgänger«. Während seines Krankenhausaufenthalts erhielt er keinen Besuch. Wyrazik war Amerikaner, seine Eltern aber waren polnische Emigranten. Die Mutter war tot, der Vater lebte in einer kleinen Stadt in Kansas bei Kurts älterer, ebenfalls unverheirateter Schwester. Die beiden waren die einzigen Menschen auf der Welt, zu denen Kurt Wyrazik eine Beziehung hatte. Allerdings teilte er ihnen nicht mit, daß er krank war und im St. Bede's Hospital lag.