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Am Abend des zweiten Krankenhaustages gegen zwanzig Uhr stattete Dr. Townsend ihm erneut einen Besuch ab. An diesem Punkt kam auch Andrew indirekt mit dem Fall in Berührung. Noah Townsend hatte vor kurzem damit begonnen, seine Krankenhauspatienten zu ungewöhnlichen Zeiten zu besuchen. Wie Andrew und andere später vermuteten, tat er es, um seinen Kollegen aus dem Weg zu gehen oder aber wegen einer allgemeinen Orientierungslosigkeit aufgrund der Rauschmittel. Es traf sich, daß Andrew wegen eines Notfalls an diesem Abend ebenfalls im St. Bede's war. Er wollte das Krankenhaus gerade verlassen, als Townsend eintraf. Sie sprachen kurz miteinander.

Andrew erkannte an Noah Townsends Verhalten sofort, daß der ältere Kollege unter dem Einfluß von Drogen stand, die er wahrscheinlich erst kurz zuvor eingenommen hatte. Andrew zögerte, aber da er mit dieser Situation nun schon so lange lebte, unternahm er nichts. Später sollte er sich deswegen bittere Vorwürfe machen.

Townsend nahm den Lift zur Krankenstation, wo er mehrere Patienten aufsuchte, als letzten den jungen Wyrazik.

Was zu diesem Zeitpunkt in Townsends Kopf vorging, läßt sich nur vermuten. Bekannt war jedoch, daß sich Wyraziks Zustand verschlechtert hatte. Die Temperatur war gestiegen, und er atmete schwer. Vermutlich nahm Townsend in seinem benebelten Zustand an, daß das von ihm verschriebene Medikament nicht richtig anschlug. Er schrieb neue Anweisungen auf, die er, nachdem er Wyrazik verlassen hatte, persönlich im Stationsdienstzimmer ablieferte.

Nach der Verordnung erhielt der Patient intramuskulär alle sechs Stunden 600.000 Einheiten Penicillin, wobei die erste Injektion sofort erfolgen sollte.

Da die Oberschwester krank war, wurde der Nachtdienst von einer jungen und unerfahrenen Schwester versehen, die zudem sehr beschäftigt war. Weil sie an Dr. Townsends Anweisung nichts Ungewöhnliches fand, führte sie sie sofort aus. Sie wußte nichts von den Notizen auf der Karteikarte und ahnte deshalb auch nichts von der Warnung vor Penicillin.

Wyrazik befand sich, als die Schwester zu ihm kam, in fiebrigem und schläfrigem Zustand. Er fragte nicht, was man ihm spritzte, und die Schwester erklärte es ihm auch nicht. Unmittelbar nach der Injektion verließ die Schwester Wyraziks Krankenzimmer.

Was dann geschah, konnte man, gestützt auf die Schilderungen eines der Mitpatienten, nur vermuten.

Wyrazik mußte innerhalb weniger Augenblicke schwere Angstzustände durchlitten haben, begleitet von einem plötzlichen Jucken am ganzen Körper und einer starken Rötung der Haut. In einem anhaltenden, schnellen Prozeß trat ein anaphylak-tischer Schock mit plötzlichen Schwellungen des Gesichts, der Augenlider, des Mundes, der Zunge und des Kehlkopfs ein, begleitet von Würgen und Keuchen. Der geschwollene Kehlkopf mußte die Luftwege blockiert und die Atmung verhindert haben, woraufhin - wie eine Gnade nach all den Schmerzen - Bewußtlosigkeit und schließlich der Tod eintrat. Das Ganze hatte sich innerhalb von etwa fünf Minuten abgespielt.

Als sofortige Gegenmaßnahme hätte man Adrenalin injizieren und einen Luftröhrenschnitt machen müssen. Aber niemand rief um Hilfe, und als Hilfe kam, war es zu spät.

Ein Bettnachbar, der beobachtet hatte, wie der Kranke sich herumwarf, und auch die Erstickungsgeräusche gehört hatte, drückte auf die Klingel. Aber als die Schwester kam, war Kurt Wyrazik bereits tot.

Die Schwester ließ sofort einen Arzt ausrufen. Dr. Townsend befand sich noch im Krankenhaus. Er traf als erster ein und nahm die Angelegenheit sofort in die Hand. Wieder konnte man nur ahnen, was ihn zu seinen Handlungen veranlaßte.

Höchstwahrscheinlich durchdrang die Erkenntnis dessen, was geschehen war, seine benebelten Sinne, so daß er unter großer Willensanstrengung mit dem begann, was - wenn Andrew nicht später eingegriffen hätte - ein erfolgreiches Vertuschungsma-növer geworden wäre. Es mußte ihm klar sein, daß die Schwester nichts von der Penicillinallergie wußte. Und es war möglich, daß man, wenn er Glück hatte, die beiden belastenden Punkte - die frühere Eintragung auf der Karteikarte und die Penicillininjektion - nicht miteinander in Verbindung brachte. Wenn es ihm also gelang, für den Tod natürliche Ursachen anzugeben, würde der wahre Grund vielleicht im dunkeln bleiben. Es konnte Townsend auch nicht entgangen sein, daß Kurt Wyrazik keine Freunde hatte, jedenfalls keine, die bohrende Fragen stellen würden. »Armer Kerl!« sagte Townsend zu der Schwester. »Sein Herz hat versagt. Ich habe so etwas befürchtet. Er hatte ein schwaches Herz, wissen Sie.«

»Ja, Herr Doktor.« Die junge Schwester war erleichtert, daß man sie nicht verantwortlich machte. Außerdem war Noah Townsend selbst jetzt noch eine beeindruckende Persönlichkeit, und seine Worte wurden nicht in Frage gestellt. Das tat auch der Stationsarzt nicht, den man gerufen hatte und der sich wieder anderen Pflichten zuwandte, nachdem er festgestellt hatte, daß ein »behandelnder« Arzt anwesend war und er nicht benötigt wurde.

Townsend stieß einen Seufzer aus.

»Es gibt ein paar Dinge, die bei einem Todesfall getan werden müssen, junge Frau«, wandte er sich an die Schwester. »Sie und ich werden das erledigen.«

Dazu gehörte auch die Ausstellung eines Totenscheins, auf dem Noah Townsend als Todesursache »akutes Herzversagen infolge Lungenentzündung« vermerkte.

Andrew erfuhr von Kurt Wyraziks Tod durch Zufall am Donnerstag morgen.

Als er durch das Vorzimmer der Praxis ging, das er mit Townsend und Dr. Aarons teilte, hörte Andrew, wie Peggy, die Sprechstundenhilfe, die jetzt anstelle der ausgeschiedenen Violet Parsons für sie arbeitete, am Telefon etwas von »Dr. Townsends Patient, der letzte Nacht gestorben ist« sagte. Kurz danach traf er Townsend und sagte mitfühlend: »Wie ich hörte, haben Sie einen Patienten verloren.«

Der ältere Kollege nickte. »Sehr traurig. Ein noch junger Bursche; Sie haben ihn einmal für mich untersucht. Wyrazik. Er hatte eine schwere Lungenentzündung und dazu ein schwaches Herz. Es hat versagt. Ich fürchtete, daß so etwas eintreten könnte.« Andrew hätte üblicherweise nicht weiter über die Sache nachgedacht; der Tod eines Patienten war zwar bedauernswert, aber nichts Ungewöhnliches. Townsends Benehmen machte ihn jedoch stutzig und weckte ein leichtes Unbehagen. Dieses Gefühl veranlaßte Andrew etwa eine Stunde später, nachdem Townsend die Praxis verlassen hatte, die Karteikarte von Wyra-zik hervorzuholen. Jetzt erinnerte er sich an den Mann, und während er die Eintragungen durchsah, fielen Andrew zwei Dinge auf: Das eine war der Hinweis auf eine Penicillinallergie, der nicht weiter wichtig schien. Das andere war das Fehlen jedes Hinweises auf ein Herzleiden, was ihm wesentlich schien.

Da Andrews Neugier geweckt war, beschloß er, noch am selben Tag diskret Nachforschungen über Wyraziks Tod anzustellen.

Am Nachmittag ging er in die Registratur des St. Bede's Hospitals, wohin man Wyraziks Krankengeschichte und die anderen Papiere von der Station gebracht hatte, nachdem der Patient gestorben war.

Andrew las die letzte Eintragung im Krankenblatt zuerst: die Todesursache, wie Dr. Townsend sie notiert hatte, dann ging er die Angaben von hinten nach vorn durch. Fast sofort sprang ihm die Anweisung in Townsends Handschrift ins Auge: 600.000 Einheiten Penicillin. Es traf ihn wie ein Blitz. Genauso erschütternd war die Notiz der Schwester, die das Penicillin gespritzt hatte, und zwar, wie die Zeitangaben zeigten, kurz vor Wyraziks Tod.

Andrew las den Rest der Akte - einschließlich der Notiz des Stationsarztes über die Penicillinallergie und der früheren Anordnung, Erythromycin zu geben - wie in Trance. Als er die Papiere weglegte, zitterten seine Hände, und sein Herz klopfte.

Was sollte er tun? An wen sollte er sich wenden?

Andrew ging zur Leichenhalle, um sich Wyraziks Leiche anzu-sehen.