»In Ordnung«, meinte der Kinderarzt. »Aber was sagen wir seiner Familie?«
»Um ganz ehrlich zu sein«, erklärte Sweeting, »das ist der rechtlichen Fragen wegen, um die es dabei geht, ein heikles Problem, das sich aber lösen läßt. Ich schlage vor, die Entscheidung darüber Dr. Gould, mir und Mr. McNair zu überlassen, der in Kürze hier sein wird und der uns auch in allen rechtlichen Fragen beraten wird. Vielleicht werden wir dem Komitee später Bericht erstatten.«
»Sind alle einverstanden?« fragte Dr. Gould. Die Anwesenden nickten zustimmend und zeigten, wie es schien, eine Spur von Erleichterung.
Vielleicht, das war das entscheidende Wort, dachte Andrew. Vielleicht . . . werden wir dem Komitee Bericht erstatten. Aber vielleicht werden wir es auch nicht tun.
Dem Krankenhaus, in der Person von Leonard Sweeting und seinem Chef Fergus McNair, wäre es zweifellos am liebsten, wenn alle zum Schweigen gebracht werden könnten und der junge Kurt Wyrazik, das unschuldige Opfer, eingeäschert und vergessen würde. Und eigentlich konnte man Sweeting oder McNair deswegen nicht einmal böse sein, überlegte Andrew. Sie trugen die Verantwortung. Und wenn das Ganze zu einem Fall für die Gerichte wurde, waren die finanziellen Folgen nicht abzusehen. Ob die Versicherung die Kosten übernehmen würde, wußte Andrew nicht, und es war ihm auch egal. Er wußte nur das eine: Daß er sich an einer Vertuschung nicht beteiligen würde.
Der Vorsitzende klopfte Ruhe gebietend auf den Tisch.
»Wir kommen nun«, sagte Dr. Gould, »zum schwierigsten Teil. Ich werde zu Noah Townsend gehen und ihm mitteilen müssen, was hier beschlossen wurde. Wie ich höre, ist er noch im Hause. Möchte jemand von Ihnen mitkommen?«
»Ich komme mit«, sagte Andrew. Es war das mindeste, was er tun konnte, fand er. Soviel war er Noah schuldig.
Als er später noch einmal in aller Ruhe darüber nachdachte, hatte Andrew trotz der pathetischen Szene, die sich in der Folge abgespielt hatte, das Gefühl, daß Noah Townsend auf sie gewartet hatte und erleichtert war, als er sie kommen sah.
Dr. Ezra Gould und Andrew waren aus dem Lift gestiegen und nach rechts in einen betriebsamen Gang eingebogen, an dem Krankenzimmer und eine Pflegestation lagen. Am Ende des Gangs stand Townsend - regungslos; er schien in die Luft zu starren.
Als die beiden Männer näher kamen, drehte er den Kopf zu ihnen um und schien in sich zusammenzuschrumpfen, dann wandte er sich wieder ab. Einen Augenblick später änderte er plötzlich seine Meinung. Mit einem Ruck drehte er sich erneut zu ihnen um, seine Gesichtszüge waren zu einem unechten Lächeln verzerrt, und er streckte ihnen die zusammengelegten Hände entgegen.
»Haben Sie Handschellen mitgebracht?« fragte er.
Gould war verwirrt. »Noah«, sagte er, »ich muß mit Ihnen reden. Lassen Sie uns irgendwohin gehen, wo wir unter uns sind.«
»Wozu es geheimhalten?« Das klang wie ein Aufschrei, und es hatte den Anschein, als habe Townsend absichtlich so laut gesprochen; eine Schwester und mehrere Patienten drehten neugierig den Kopf nach ihnen um. »Wird es das ganze Krankenhaus nicht ohnehin wissen, bevor der Tag um ist?«
»Nun gut«, sagte Gould ruhig, »Wenn Sie darauf bestehen, werden wir es hier erledigen. Es ist meine Pflicht, Noah, Ihnen zu sagen, daß das Ärztekomitee mit dem größten Bedauern beschlossen hat, Sie von Ihrem Dienst im Krankenhaus zu suspendieren.«
»Haben Sie eine Ahnung« - Townsends Stimme war noch immer sehr laut -, »wie lange ich diesem Krankenhaus angehört und wieviel ich dafür getan habe?«
»Ich weiß, daß es viele Jahre waren, und jeder weiß, daß Sie viel dafür getan haben.« Gould spürte voller Unbehagen, daß es immer mehr Zuhörer gab. »Bitte, Noah, können wir nicht . . .«
»Zählt das denn alles nichts?«
»In diesem Fall, leider nein.«
»Fragen Sie Andrew, wieviel ich getan habe! Los, fragen Sie ihn doch!«
»Noah«, sagte Andrew. »Ich habe ihnen das mit Wyrazik gesagt. Es tut mir leid, aber ich mußte es tun.«
»Ah, ja! Wyrazik.« Townsend machte ruckartige Bewegungen mit dem Kopf; er sprach jetzt leiser. »Dieser arme junge Kerl. Er hätte etwas Besseres verdient. Es tut mir seinetwegen leid. Es tut mir wirklich leid.«
Dann verlor er plötzlich die Fassung und brach weinend zusammen. Er zitterte am ganzen Körper und wurde von heftigem Schluchzen geschüttelt. Dazwischen stammelte er unzusammenhängende Sätze. ». . . das erste Mal . . . noch nie einen Fehler . . . bestimmt übersehen . . . wird nicht noch mal passieren . . . verspreche ich Ihnen . . .«
Andrew wollte nach Townsends Arm greifen, aber Ezra Gould kam ihm zuvor. Er packte Townsend am Arm. »Noah, kommen Sie hier weg. Es geht Ihnen nicht gut, ich werde Sie nach Hause bringen.«
Noch immer heftig schluchzend, ließ Townsend sich zu den Aufzügen führen. Neugierige Blicke folgten ihnen.
Gould drehte sich zu Andrew um. Während er Townsend vor sich herschob, sagte der Chefarzt ruhig: »Andrew, bleiben Sie hier. Stellen Sie fest, bei welchen Patienten Noah heute Visite gemacht hat, und prüfen Sie alle seine Anweisungen. Tun sie es schnell. Es darf nicht noch einmal . . . verstehen Sie?«
Andrew nickte. Zögernd sah er den beiden nach.
Als sie bei den Aufzügen angekommen waren, begann Townsend hysterisch zu schreien und versuchte, sich zu widersetzen. Er hatte jegliche Würde verloren, war nur noch ein schwaches Abbild seiner selbst. Als die Lifttür aufging, schob Gould Townsend resolut vor sich her. Selbst als die Tür sich wieder geschlossen hatte, konnte man noch die Schreie hören. Als der Aufzug abwärts fuhr, blieb Andrew allein inmitten der Stille zurück.
Am selben Abend erhielt Andrew zu Hause einen Anruf von Ezra Gould.
»Ich möchte mich noch heute abend mit Ihnen treffen«, sagte der Chefarzt. »Wo wäre es Ihnen recht? Ich komme auch zu Ihnen nach Hause, wenn Sie wollen.«
»Nein«, sagte Andrew. »Wir treffen uns besser im Krankenhaus.« Er war noch nicht in der Stimmung gewesen, Celia von Noah zu berichten, obwohl Celia wie immer gespürt hatte, daß etwas nicht in Ordnung war.
Als Andrew im St. Bede's Hospital ankam, war Dr. Gould bereits in seinem Büro. »Kommen Sie herein«, sagte er. »Und machen Sie die Tür zu.«
Gould zog eine Schublade auf und brachte eine Flasche Scotch und zwei Gläser zum Vorschein. »Es ist gegen die Regeln, und ich tue es auch nur selten. Aber heute abend habe ich das Gefühl, ich könnte einen gebrauchen. Leisten Sie mir Gesellschaft?«
»Aber gern«, sagte Andrew dankbar.
Gould füllte die Gläser, gab Eis und Wasser dazu, und sie tranken schweigend.
»Ich war fast die ganze Zeit bei Noah - seit wir uns getrennt haben«, sagte Gould schließlich. »Es gibt ein paar Dinge, die Sie wissen sollten. Das erste wäre - da es Ihre gemeinsame Praxis und Noahs Patienten betrifft -, daß Noah Townsend nie wieder wird praktizieren können.«
»Wie geht es ihm?« fragte Andrew.
»Fragen Sie lieber, wo er ist, und ich werde Ihnen antworten.« Gould schwenkte den Whisky in seinem Glas. »Er ist in eine private psychiatrische Klinik in Newark eingewiesen worden. Und nach Ansicht der Leute, die es wissen müssen, wird er sie wahrscheinlich nie wieder verlassen.«
Und dann berichtete Gould mit angespannter Stimme, was sich am Nachmittag und am frühen Abend zugetragen hatte. Einmal bemerkte er grimmig: »Ich hoffe nur, daß ich so was nicht noch einmal erleben muß.«
Nachdem sie Andrew verlassen hatten, erreichten Gould und Townsend den Hauptgang des Krankenhauses; es war dem Chefarzt gelungen, den noch immer tobenden Townsend in einen freien Behandlungsraum zu schieben, die Tür hinter ihm abzuschließen und mit einem Psychiater des Krankenhauses zu telefonieren. Als der Psychiater kam, bändigten sie Townsend gemeinsam und gaben ihm Beruhigungsmittel. Es war klar, daß man ihn in diesem Zustand nicht nach Hause bringen konnte. Der Psychiater führte hastig ein paar Telefongespräche, und Townsend wurde mit dem Ambulanzwagen in die psychiatrische Klinik in Newark gebracht. Gould und der Psychiater begleiteten ihn.