»Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte Andrew, »ziehe ich es vor, mich nicht als Pionier zu betätigen.«
Die Besucherin zog die Augenbrauen hoch, ihre Stimme hatte jetzt einen schärferen Klang. »Nicht einmal, wenn Ihre Patientin im Sterben liegt und es nichts anderes gibt? Wie geht es ihr denn, Doktor?«
»Ihr Zustand hat sich verschlechtert.« Er zögerte. »Sie liegt im Koma.«
»Dann wird sie also sterben?«
»Hören Sie«, sagte Andrew, »ich weiß, daß Sie es gut meinen, Miß de Grey, und mein gestriges Benehmen tut mir leid. Aber jetzt ist es zu spät. Zu spät, um mit neuen Medikamenten herum-zuexperimentieren. Selbst wenn ich es wollte - haben Sie eine Ahnung, welche Formalitäten nötig wären?«
»Ja«, sagte die Frau; ihre glänzenden Augen ließen Andrew nicht los, und er merkte, wie ihm diese Mädchen-Frau mit ihrer direkten, lebendigen Art zu gefallen begann. »Ja, ich weiß genau, was erforderlich ist. Tatsächlich habe ich seit gestern kaum etwas anderes getan, als das festzustellen - und außerdem mußte ich dem stellvertretenden Leiter unserer Forschungsabteilung erst kräftig den Arm verdrehen, um ihn dazu zu bringen, mir etwas von dem Lotromycin zu überlassen. Es gibt bis jetzt nur sehr wenig davon. Aber ich habe es vor drei Stunden in unseren Labors in Camden gekriegt und bin gleich hergekommen - trotz des lausigen Wetters.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, begann Andrew, aber die Besucherin schüttelte ungeduldig den Kopf.
»Noch etwas, Dr. Jordan: Der ganze Papierkram ist bereits erledigt. Wenn Sie das Mittel anwenden wollen, brauchen Sie le-diglich die Zustimmung des Krankenhauses und des nächsten Angehörigen. Das ist alles.«
Er starrte sie an. »Also wirklich!«
»Wir vergeuden nur unsere Zeit«, sagte Celia de Grey. Sie hatte bereits ihre Aktentasche geöffnet und einen Stoß Papiere herausgeholt. »Lesen Sie das bitte. Es ist eine Beschreibung von Lotromycin, die die Forschungsabteilung von Felding-Roth für Sie vorbereitet hat. Und hier ist eine Notiz von unserem medizinischen Leiter - Anweisungen, wie das Mittel anzuwenden ist.«
Andrew nahm die beiden Blätter, die nur die ersten von vielen weiteren zu sein schienen, und war augenblicklich darin vertieft.
Fast zwei Stunden waren vergangen.
»Wenn sich Ihre Patientin in extremis befindet, Andrew, was haben wir dann zu verlieren?« Die Stimme am Telefon gehörte Noah Townsend. Andrew hatte den Chefarzt auf einer Dinnerparty ausfindig gemacht und ihm von der Möglichkeit, das noch nicht erprobte Arzneimittel Lotromycin anzuwenden, berichtet.
»Und Sie sagen, der Ehemann habe bereits zugestimmt?« fuhr Townsend fort.
»Ja, schriftlich. Ich habe den Verwaltungsdirektor zu Hause erreicht. Er ist ins Krankenhaus gekommen und hat die Erklärung aufgesetzt. Es ist alles unterzeichnet und von Zeugen bestätigt.«
Zuvor hatte Andrew im Gang vor dem Krankenzimmer mit John Rowe gesprochen, und der junge Ehemann hatte sofort zugestimmt. Er war so eifrig gewesen, daß Andrew ihn davor warnen mußte, sich allzu große Hoffnungen zu machen. Die Unterschrift auf dem Papier war krakelig, so sehr hatte John Rowes Hand gezittert. Aber sie war vorhanden und gültig.
»Die Bedenken des Verwaltungsdirektors sind ausgeräumt«, erklärte Andrew Noah Townsend, »denn die Papiere, die Felding-Roth mitgeschickt hat, sind in Ordnung. Offenbar ist es von Vorteil, daß das Mittel keine Bundesstaatsgrenzen überschreiten mußte.«
»Sorgen Sie dafür, daß im Krankenblatt der Patientin alles genauestens vermerkt wird.«
»Ist bereits geschehen.«
»Sie brauchen also nur noch meine Erlaubnis?«
»Für das Krankenhaus. Ja.«
»Ich erteile sie Ihnen hiermit«, sagte Dr. Townsend. »Nicht, daß ich mir allzu große Hoffnungen mache, Andrew. Ich glaube, daß es um Ihre Patientin schon zu schlecht steht, aber versuchen können wir es immerhin. Und jetzt werde ich zu meinem köstlichen Fasanenbraten zurückkehren, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Andrew legte im Schwesternzimmer den Hörer auf die Gabel. »Ist alles bereit?« fragte er.
Die Nachtschwester, die schon älter war und nur noch stundenweise arbeitete, hatte ein Tablett mit Spritzen vorbereitet. Sie öffnete den Kühlschrank und holte einen Glasbehälter heraus, den die Vertreterin von Felding-Roth mitgebracht hatte. »Ja, es ist alles bereit.«
Dr. Overton, der Stationsarzt, der schon am Morgen bei Mary Rowe gewesen war, stand neben dem Bett, als Andrew und die Schwester eintrafen. John Rowe wartete im Hintergrund.
Andrew erklärte Dr. Overton, einem stämmigen, jovialen Te-xaner, das neue Mittel. »Sie erwarten wohl ein Wunder, was?« meinte der in seiner gedehnten Sprechweise.
»Nein«, erwiderte Andrew barsch. Er drehte sich zu Mary Rowes Ehemann um.
»Ich möchte noch einmal betonen, John, daß das eine gewagte Sache ist, eine sehr gewagte Sache. Unter den gegebenen Umständen . . .«
»Ich weiß.« Die Stimme klang wie erstickt.
Während die Schwester die bewußtlose Mary Rowe für die intramuskuläre Injektion vorbereitete, wandte Andrew sich an den Stationsarzt: »Die Arzneimittelfirma rät, die Dosis alle vier Stunden zu wiederholen. Ich habe schriftliche Anweisungen gegeben, aber es wäre mir lieb, wenn Sie . . .«
»In Ordnung, Chef. Ich werde dabeisein - also Q-4.« Der Arzt senkte die Stimme: »Wie war's mit 'ner Wette? Ich . . .«
Andrew brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. Der Te-xaner befand sich seit einem Jahr in der Ausbildung und galt als fähig, sein Feingefühl war allerdings mangelhaft entwickelt.
Die Schwester hatte die Injektion beendet und prüfte Puls und Blutdruck der Patientin. »Keine Reaktion, Doktor. Keinerlei Veränderung«, erklärte sie.
Andrew nickte und war für einen Augenblick erleichtert. Er hatte keine positive Wirkung erwartet, eher eine Gegenreaktion befürchtet, noch dazu bei einem Mittel, das sich erst im Erprobungsstadium befand. Er bezweifelte noch immer, daß Mary Rowe den nächsten Morgen erleben würde.
»Rufen Sie mich zu Hause an, wenn es ihr schlechter gehen sollte«, ordnete er an. Dann ging er mit einem leisen »Gute Nacht, John«, am Ehemann vorbei hinaus.
Erst als Andrew zu Hause war, fiel ihm ein, daß er ganz vergessen hatte, der Vertreterin von Felding-Roth, die im Aufenthaltsraum der Ärzte auf ihn wartete, eine Nachricht zu geben.
Diesmal erinnerte er sich an ihren Namen - de Grey. War es Cindy? Nein, Celia. Er war drauf und dran anzurufen, vermutete aber, daß sie inzwischen erfahren hatte, was geschehen war. Er würde morgen mit ihr reden.
2
Normalerweise begann Andrew am Samstagvormittag um zehn Uhr mit der Sprechstunde in seiner Praxis und fuhr gegen Mittag kurz ins Krankenhaus. Heute machte er es umgekehrt und war schon um neun im St. Bede's Hospital.
Auf Sturm und Regen der vergangenen Nacht war ein frischer, klarer Morgen gefolgt, kalt, aber sonnig.
Als Andrew die Treppe zum Krankenhaus hinaufging, wurde die Eingangstür aufgerissen, und Dr. Overton stürzte heraus. Er wirkte erregt. Seine Haare sahen aus, als wäre er in aller Eile aus dem Bett gesprungen und hätte vergessen, sich zu kämmen. Er packte Andrew am Arm.
»Hab' versucht, Sie anzurufen«, stieß er atemlos hervor. »Aber Sie waren schon weg. Der Hausmeister sagte mir, daß Sie kämen.
Ich mußte Sie einfach zuerst erwischen.«
Andrew zog seinen Arm zurück. »Was ist los?«
Der Arzt schluckte. »Warten Sie, bis Sie es mit eigenen Augen sehen.«
Overton lief vor Andrew den Gang entlang zum Aufzug. Er sagte kein Wort und wich Andrews Blicken aus, als sie in den vierten Stock hinauffuhren.
Vor dem Krankenzimmer, in dem Andrew am Abend zuvor die bewußtlose Mary Rowe, ihren Ehemann, die Krankenschwester und den Arzt zurückgelassen hatte, blieben sie stehen.
»Gehen Sie rein!« forderte Overton Andrew ungeduldig auf. »Machen Sie schon!«