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Als sie ankamen, hatte die Wirkung des Beruhigungsmittels nachgelassen, und Townsend wurde gewalttätig, so daß man ihn in eine Zwangsjacke stecken mußte. »O Gott, es war schrecklich!« Gould zog ein Taschentuch heraus und wischte sich das Gesicht ab.

Das war mehr oder weniger der Zeitpunkt, an dem deutlich wurde, daß Noah Townsend den Verstand verloren hatte.

»Als hätte Noah lange Zeit wie eine leere Hülle gelebt«, sagte Ezra Gould. »Weiß der Himmel, wie es ihm gelungen ist, weiterzumachen, aber er hat es geschafft. Und dann, ganz plötzlich, ist durch das, was heute geschah, die Hülle zerbrochen . . . und in ihrem Innern gab es nichts mehr, was funktionierte - und so, wie es aussieht, auch nichts mehr zu retten.«

Eine Stunde später, erzählte Gould weiter, hatte er Townsends Frau aufgesucht. Andrew erschrak. Bei all dem, was in den letzten Tagen geschehen war, hatte er kein einziges Mal an Hilda gedacht. »Wie hat sie es aufgenommen?« fragte er.

Gould überlegte, bevor er antwortete. »Das ist schwer zu sagen. Sie hat nicht viel gesagt, und sie ist auch nicht zusammengebrochen. Ich hatte den Eindruck, daß sie etwas Ähnliches erwartet hatte. Es wäre sicher gut, wenn Sie morgen selbst zu ihr gingen.«

»Ja«, sagte Andrew. »Das werde ich tun.«

Gould zögerte. Dann sah er Andrew an. »Es gibt noch etwas, das Sie und ich besprechen müssen - es betrifft den Toten, Wyra-zik.«

»Dazu kann ich Ihnen gleich etwas sagen«, warf Andrew ein. »Ich habe nicht die Absicht, bei einer Vertuschung mitzumachen.«

»Na schön«, bemerkte Gould; seine Stimme war schärfer geworden. »Dann darf ich Sie fragen, was Sie vorschlagen: Wollen Sie eine öffentliche Erklärung abgeben - vielleicht an die Presse? Wollen Sie sich danach als Zeuge der Anklage zur Verfügung stellen? Wollen Sie einem Anwalt, der auf Schadenersatz aus ist, zu einem fetten Honorar verhelfen, indem er Townsends Frau das gesamte Geld, das Noah für ihre alten Tage gespart hat, wegnimmt? Wollen Sie diesem Krankenhaus einen Schaden zufügen, der von keiner Versicherung gedeckt werden wird und der uns finanziell ruinieren kann, so daß wir unsere Leistungen einschränken oder überhaupt schließen müssen?«

»Vielleicht kommt es gar nicht dazu«, protestierte Andrew.

»Aber es könnte dazu kommen. Es gibt genug clevere Rechtsanwälte.«

»Das ist nicht mein Problem«, beharrte Andrew. »Für mich ist nur die Wahrheit wichtig.«

»Die Wahrheit ist für uns alle wichtig«, erwiderte Gould. »Darauf haben Sie kein Monopol. Aber manchmal darf die Wahrheit aus guten Gründen und unter besonderen Umständen etwas gefärbt werden.« Seine Stimme wurde eindringlich. »Und jetzt hören Sie gut zu!«

Der Chefarzt machte eine Pause, um sich zu sammeln. Dann fuhr er fort: »Die Schwester des Toten, Miß Wyrazik, ist heute nachmittag aus Kansas eingetroffen. Len Sweeting hat mit ihr gesprochen. Eine nette, einfache Frau, sagt er, ein ganzes Stück älter als ihr Bruder, und natürlich ist sie über seinen Tod betrübt. Aber die beiden standen sich nicht sehr nahe, so daß es für sie kein unüberwindlicher Verlust ist. In Kansas wohnt auch der Vater, aber er hat die Parkinsonsche Krankheit in fortgeschrittenem Stadium; er hat nicht mehr lange zu leben.«

»Ich verstehe nicht, was das alles . . .«

»Sie werden es gleich verstehen. Hören Sie zu! Wyraziks Schwester ist nicht gekommen, um uns Schwierigkeiten zu machen. Sie hat nicht allzu viele Fragen gestellt, hat sogar darin beigepflichtet, daß die Gesundheit ihres Bruders noch nie besonders gut war. Sie möchte, daß seine sterblichen Überreste eingeäschert werden, und wird die Asche mit nach Kansas nehmen. Aber sie ist in Geldnot. Das hat Len beim Gespräch mit ihr erfahren.«

»Dann hat sie das Recht auf Unterstützung. Das ist das mindeste . . .«

»Richtig. Darin sind wir uns alle einig, Andrew. Und mehr noch - eine solche finanzielle Hilfe läßt sich arrangieren.«

»Wie denn?«

»Len und Fergus McNair haben es ausgetüftelt. Sie haben den ganzen Nachmittag damit verbracht, aber die Einzelheiten brauchen wir beide nicht zu wissen. Tatsache ist, daß unsere Versicherung - mit der wir die Sache vertraulich besprochen haben - ein Interesse daran hat, die Angelegenheit in aller Stille beizulegen. Offenbar hat Wyrazik immer Geld nach Kansas geschickt, um sich an den Arztkosten für seinen Vater zu beteiligen. Diese Beträge können weiterhin bezahlt, womöglich sogar erhöht werden. Die Kosten für Wyraziks Beerdigung werden ebenfalls übernommen. Und die Schwester kann bis an ihr Lebensende mit einer Rente rechnen, die nicht gerade üppig, aber ausreichend sein wird.«

»Wie wollen Sie ihr das erklären? Ohne eine Schuld einzugestehen? Angenommen, sie schöpft Verdacht.«

»Das könnte in der Tat ein Risiko sein«, sagte Gould, »wenngleich Len und McNair nicht dieser Meinung zu sein scheinen, und sie sind schließlich Rechtsanwälte. Sie glauben, daß es sich vertraulich regeln läßt. Es kommt darauf an, was Miß Wyrazik für eine Frau ist. Und schließlich: Es gibt keine Ehefrau und keine Kinder, die noch in der Ausbildung sind - es gibt nur einen alten Mann, der bald sterben wird, und eine Frau mittleren Alters, für die auf vernünftige Weise gesorgt wird.«

»Wenn Noah schon einen Patienten umbringen mußte, dann hätte er sich keinen bequemeren aussuchen können«, sagte Andrew zynisch.

Gould zuckte die Achseln. »Das Leben ist voller Zufälle. Dieser hier scheint sich zu unseren Gunsten zu entwickeln. Nun?«

»Nun, was?«

»Werden Sie eine öffentliche Erklärung abgeben? Werden Sie die Presse benachrichtigen?«

»Natürlich nicht«, sagte Andrew gereizt. »Ich hatte nie die Absicht. Das wissen Sie genau.«

»Und was gibt es sonst noch? Sie haben sich korrekt verhalten, als Sie das Krankenhaus über das informierten, was Sie erfahren hatten. Darüber hinaus haben Sie nichts weiter damit zu tun. Man wird nicht von Ihnen verlangen, daß Sie lügen, und wenn aus irgendeinem Grund etwas an die Öffentlichkeit dringt und man Ihnen offiziell Fragen stellt, können Sie selbstverständlich die Wahrheit sagen.«

»Wenn das mit mir so ist«, sagte Andrew, »wie steht es dann mit Ihnen? Werden Sie Miß Wyrazik über den wahren Grund für den Tod ihres Bruders aufklären?«

»Nein«, erwiderte Gould kurz angebunden. Dann fügte er hinzu: »Und deshalb sind manche von uns auch tiefer in die Sache verstrickt als Sie. Aber vielleicht verdienen wir das sogar.«

Was Ezra Gould gerade gesagt hatte, dachte Andrew, war ein klares Eingeständnis, daß Andrew vor vier Jahren, als er versucht hatte, Noah Townsends Drogenabhängigkeit aufzudecken, und zurückgehalten worden war, recht gehabt hatte und die anderen unrecht. Andrew war jetzt ganz sicher, daß Leonard Sweeting damals auch anderen von ihrer Unterhaltung berichtet hatte.

Zweifellos war dieses Eingeständnis das einzige, was je gemacht werden würde; derartiges wurde nie schriftlich festgehalten. Aber wenigstens hatte man etwas gelernt, dachte Andrew, er selbst, Sweeting, Gould und ein paar andere. Doch leider war es jetzt zu spät, um Townsend oder Wyrazik zu helfen.

Was wäre also gewonnen, wenn er alles erzählte?

»In Ordnung«, sagte Andrew nach einer langen Pause. »Ich werde weiter nichts unternehmen.«

»Vielen Dank«, erwiderte Gould. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Es war ein langer Tag heute. Ich gehe nach Hause.«

Am folgenden Nachmittag suchte Andrew Hilda Townsend auf.

Sie war Ende Fünfzig und sah für ihr Alter noch gut aus. Sie hatte auf ihre Figur geachtet, ihre Gesichtshaut war straff, das ergraute Haar modern kurz geschnitten. Sie trug elegante weiße Leinenhosen und eine blaue Seidenbluse. Um ihren Hals lag eine dünne Goldkette. Andrew hatte Verzweiflung und Tränen erwartet. Aber nichts dergleichen.