Die Townsends wohnten in einem hübschen kleinen zweistök-kigen Haus in der Hill Street in Morristown, nicht weit von der Praxis entfernt, wohin Noah Townsend an schönen Tagen oft zu Fuß gegangen war. Sie hatten kein Dienstpersonal; Hilda öffnete Andrew selbst die Tür und bat ihn ins Wohnzimmer. Das Zimmer war in sanften Braun- und Beigetönen möbliert und führte hinaus in den Garten.
»Kann ich Ihnen etwas anbieten, Andrew?« fragte Hilda, als sie sich gesetzt hatten. »Einen Drink? Oder Tee?«
Andrew schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Hilda, ich weiß nicht, was ich sagen soll, außer - daß es mir schrecklich leid tut.«
Sie nickte, als habe sie genau das erwartet, dann fragte sie: »Haben Sie sich davor gefürchtet, hierher zu kommen?«
»Ein bißchen«, gab er zu.
»Das dachte ich mir, aber das brauchen Sie nicht. Sie müssen sich nicht wundern, daß ich nicht weine oder die Hände ringe oder ähnliches.«
Andrew wußte nicht, was er darauf sagen sollte.
»Das habe ich alles schon so oft und so lange getan, daß es weit hinter mir liegt. Jahrelang habe ich so viele Tränen vergossen, daß ich nun keine mehr habe. Es zerriß mir das Herz, wenn ich mit ansehen mußte, wie Noah sich selbst zerstörte. Und ich konnte mich nicht verständlich machen, ihn nicht einmal dazu bringen, mir zuzuhören. Das Herz lag mir oft wie ein Stein in der Brust.«
Wie wenig wissen wir doch von den Leiden anderer Men-schen! dachte Andrew. Seit Jahren mußte Hilda Townsend wie hinter einer Wand gelebt haben, die loyal alles verdeckte, und von der die anderen nie etwas gewußt hatten. Er erinnerte sich an Ezra Goulds Worte vom Vorabend.
»Sie hat nicht viel gesagt. . . Ich hatte den Eindruck, daß sie etwas Ähnliches erwartet hatte.«
»Sie wußten über Noah und die Drogen Bescheid«, sagte Hilda, »nicht wahr?«
»Ja.«
»Sie sind Arzt. Warum haben Sie nichts unternommen?« Ihre Stimme klang vorwurfsvoll.
»Ich habe es versucht. Im Krankenhaus. Vor vier Jahren.«
»Und niemand wollte etwas davon wissen.«
»So ungefähr.«
»Hätten Sie es nicht immer wieder probieren können?«
»Ja«, sagte er. »Vielleicht.«
Sie stieß einen Seufzer aus. »Wahrscheinlich hätten Sie trotzdem nichts erreicht.« Abrupt wechselte sie das Thema. »Ich habe Noah heute morgen besucht, oder vielmehr, ich wollte ihn besuchen. Er war im Delirium. Er hat mich nicht erkannt. Er erkennt niemanden.«
»Hilda«, sagte Andrew leise, »gibt es irgend etwas, das ich tun kann, irgend etwas, das Ihnen helfen würde?«
Sie beachtete die Frage nicht. »Hat Celia wegen allem, was geschehen ist, ein schlechtes Gewissen?«
Andrew war über die Frage erstaunt. »Ich habe es ihr noch gar nicht erzählt. Ich werde es heute abend tun. Aber ein schlechtes Gewissen . . .«
»Das sollte sie haben!« stieß Hilda hervor. »Celia ist ein Teil dieses habgierigen, rücksichtslosen Arzneimittelgeschäfts. Die tun doch alles, um ihre Produkte zu verkaufen, um die Ärzte dazu zu kriegen, sie zu verschreiben, und die Leute dazu zu kriegen, sie zu nehmen, selbst wenn es gar nicht nötig ist.«
»Keine pharmazeutische Firma hat Noah gezwungen, diese Mittel einzunehmen«, sagte Andrew ruhig.
»Vielleicht nicht direkt.« Hildas Stimme wurde lauter. »Aber Noah hat die Tabletten genommen, wie andere es auch tun - weil die Firmen die Ärzte damit überschütten, sie mit endlosen Werbesprüchen in den medizinischen Fachzeitschriften, mit einer Lawine von Postsendungen, mit Freifahrten und Alkohol dazu bringen, an nichts anderes mehr zu denken als an Medikamente, Medikamente, Medikamente. Jede einzelne Firma überschwemmt die Ärzte mit Mustern, erzählt ihnen, daß sie von jedem Mittel haben können, soviel sie nur wollen - sie brauchten nur darum zu bitten! Ohne jede Einschränkung und ohne je Fragen zu stellen! Sie wissen das genausogut wie ich, Andrew.« Sie unterbrach sich. »Ich möchte Sie gerne etwas fragen.«
»Wenn ich Ihre Frage beantworten kann, werde ich es sehr gern tun«, sagte er.
»Es sind doch eine Menge Vertreter in die Praxis gekommen. Glauben Sie nicht, daß wenigstens einige von ihnen, wenn nicht alle, gewußt haben, wieviel Tabletten er nimmt, sich darüber im klaren waren, daß er süchtig ist?«
Andrew dachte nach. Er dachte an den großen Vorrat an Medikamenten, den er in Noahs Praxisräumen gefunden hatte. »Ja«, erwiderte er, »ja, ich nehme an, daß sie es gewußt haben.«
»Und trotzdem haben sie sich nicht davon abhalten lassen, diese Bastarde! Haben immer weiter geliefert. Haben Noah alles gegeben, was er haben wollte. Haben dabei mitgeholfen, daß er sich kaputtmachte. Das ist das schmutzige Geschäft, an dem Ihre Frau beteiligt ist, Andrew, und ich verfluche es!«
»Sie haben in vielem, wenn auch nicht in allem recht, Hilda, und ich kann Ihre Gefühle verstehen.«
»Tatsächlich?« Verachtung und Bitterkeit klang aus Hildas Stimme. »Dann erklären Sie es irgendwann einmal Celia. Vielleicht überlegt sie sich, ob sie sich nicht doch eine andere Arbeit suchen sollte.«
Und als würde alles, was sich in ihr angestaut hatte, am Ende doch noch hervorbrechen, legte sie den Kopf in die Hände und begann zu weinen.
Mitte bis Ende der sechziger Jahre war die amerikanische Frauenbewegung »Women's Lib« in aller Munde. 1963 hatte Betty Frie-dan den Weiblichkeitswahn veröffentlicht, eine Kriegserklärung an »die zweitklassigen Bürgerrechte der Frauen«. Ihr Buch wurde das vade mecum der feministischen Bewegung, und die Stimme der Friedan war jetzt häufig zu hören. Kate Millett schloß sich ebenfalls der Bewegung an.
»Women's Lib« zog aber auch Spötter an. Abbie Hoffman, eine zweifelhafte Erscheinung dieser Zeit, erklärte: »Die einzige Allianz, die ich mit der Frauenbewegung einzugehen bereit wäre, würde sich im Bett abspielen.« Und die Historiker, die alle Welt daran erinnerten, daß es wenig Dinge gab, die wirklich neu waren, hoben hervor, daß eine gewisse Mary Wollstonecraft schon 1792 in England Eine Verteidigung der Rechte der Frau veröffentlicht und folgendermaßen argumentiert hatte:
»Tyrannen und Lüstlinge . . . bemühen sich, die Frauen in Unkenntnis zu halten, weil die einen nur Sklaven wollen und die anderen ein Spielzeug.«
Aber in den sechziger Jahren nahmen viele die Bewegung ernst, und manche Männer gingen in sich.
Celia war »Women's Lib« gegenüber positiv eingestellt. Sie kaufte mehrere Exemplare von Der Weiblichkeitswahn und verteilte sie an einige männliche Kollegen in der Geschäftsleitung von Felding-Roth. Zu ihnen gehörte auch Vincent Lord, der das Buch mit der Bemerkung zurückgab: »Ich habe für diesen Quatsch keine Verwendung.« Sam Hawthorne, von seiner Frau Lilian beeinflußt, die selbst eine glühende Anhängerin der Frauenbewegung war, zeigte sich entgegenkommender. »Sie sind der Beweis dafür, daß es in dieser Firma keine geschlechtlich bedingte Diskriminierung gibt«, sagte er zu Celia.
Sie schüttelte ablehnend den Kopf. »Ich mußte mir meinen Weg bis hierher mit Krallen und Klauen erkämpfen. Mit Ihrer Hilfe, Sam, aber ich mußte auch gegen viele männliche Vorurteile ankämpfen.«
»Das ist doch jetzt vorbei.«
»Aber nur, weil ich mich in der Firma bewährt habe und weil ich nützlich bin. Was mich zu einem Ausnahmefall, einem Unikum macht. Sie wissen aber, wie wenig Unterstützung ich finde, wenn ich mich dafür stark mache, mehr Frauen im Verkauf einzusetzen.«
Er lachte. »Das gebe ich zu, aber auch diese Einstellung wird sich ändern.«
Obwohl Celia privat für die Frauenbewegung eintrat, war sie nicht aktiv in ihr tätig. Sie war der - zugegebenermaßen rein egoistischen - Meinung, daß sie es erstens nicht nötig und zweitens keine Zeit dafür hatte.