Celias Arbeitszeit wurde weiterhin von den rezeptfreien Produkten bei Bray & Commonwealth in Anspruch genommen. Trotz Sams Versprechen, sie wieder mit anderen Aufgaben zu betrauen, schien weit und breit kein Wechsel in Sicht, und seine Bitte, sich »noch ein paar Monate zu gedulden«, erwies sich als grobe Untertreibung.
Celia teilte Andrews Kummer um Noah Townsend. Die traurige Voraussage von Dr. Gould, daß Noah nie wieder aus der Nervenklinik herauskommen würde, schien sich zu bewahrheiten.
Andrew hatte Celia von Hilda Townsends massiven Vorwürfen an die Adresse der Arzneimittelfirma erzählt. »Hilda hat recht«, sagte sie zu seiner Überraschung. »Die Mengen von Ärztemustern sind tatsächlich der helle Wahnsinn. Aufgrund des Konkurrenzkampfes könnte aber keine Firma mehr ohne Nachteile zurückstecken.«
»Aber die Firmen könnten sich untereinander abstimmen«, wandte Andrew ein, »damit diese Unsitte aufhört.«
»Nein«, sagte Celia. »Selbst wenn sie es wollten, käme das einer geheimen Absprache gleich und verstieße gegen das Gesetz.«
»Und wie ist das in einem Fall wie bei Noah? Die Vertreter der Arzneimittelfirmen müssen doch gewußt oder zumindest geahnt haben, daß Noah drogenabhängig war. Sie hätten seine Sucht nicht weiterhin unterstützen dürfen.«
»Noah war zwar süchtig, aber er war noch immer als Arzt tätig«, hob Celia hervor.»Und du weißt genau, daß Ärzte jedes Mittel bekommen, das sie wollen - auf die eine oder andere Weise. Wenn Noah seine Tabletten nicht von den Vertretern bekommen hätte, hätte er einfach Rezepte ausgeschrieben. Vielleicht hat er das sogar getan. Und außerdem«, fügte sie hitzig hinzu, »wenn der Ärztestand es nicht einmal für nötig hält, etwas zu unternehmen, wenn Kollegen süchtig werden, was kann man da von der Pharma-Industrie erwarten?«
»Eine Frage«, gab Andrew zu, »auf die ich keine Antwort weiß.«
Im August 1967 wurde Celia wieder in die Zentrale versetzt. Sam Hawthorne war zum Vizepräsidenten befördert worden, und es stand zu erwarten, daß er eines Tages an der Spitze von Felding-Roth stehen würde. Celias zehn Jahre zurückliegende Entscheidung, sich Sam als Mentor zu wählen, hatte sich also als richtig erwiesen.
Eines Tages ließ Sam sie zu sich rufen und teilte ihr mit einem Lächeln mit: »Ihre Fron bei den Rezeptfreien ist vorbei. Ich biete Ihnen den Posten des Verkaufsleiters für pharmazeutische Produkte in Lateinamerika an. Sie können die Geschäfte von hier aus führen, werden aber natürlich auch eine ganze Menge unterwegs sein müssen.« Er sah sie fragend an. »Was wird Andrew dazu sagen? Und Sie selbst und die Kinder?«
Ohne zu zögern erwiderte Celia: »Wir werden uns arrangieren.«
Sam nickte zustimmend: »Ich hatte erwartet, daß Sie das sagen würden.«
Celia freute sich über diese Herausforderung. Sie wußte, daß das internationale Pharma-Geschäft immer mehr an Bedeutung gewann. Es war eine größere Chance, als sie sich erhofft hatte.
Und damit begannen fünf Jahre, die sich als ein Rubikon in Ce-lias Karriere erweisen sollten. Das Familienleben erfuhr wider Erwarten dadurch eine starke Bereicherung. Wie Celia später in einem Brief an ihre Schwester Janet schrieb: »Jeder von uns zog daraus unvermutete Vorteile: Andrew und ich, weil wir, wenn er mich auf meinen Reisen begleitete, intensiver zusammen waren als zu Hause beim täglichen Einerlei. Und die Kinder, weil sie unterwegs dazulernten und sich daran gewöhnten, international zu denken.«
Andrew hatte sie von Anfang an bei ihren neuen Aufgaben unterstützt und sich entschlossen, die Gelegenheit zu nutzen und sich einige Zeit von dem Druck der Arztpraxis zu befreien und Celia auf ihren Reisen zu begleiten, wann immer es sich ermöglichen ließ. Andrew, der im nächsten Jahr vierzig wurde, hatte aus der Tragödie um Noah Townsend eine Lehre gezogen. Noahs Zusammenbruch hatte, so glaubte er, mit Überarbeitung und Streß begonnen, und auch andere Ärzte waren, wie er beobachtet hatte, allzusehr von ihrem Beruf besessen und vernachlässigten ihre Familie. In der Arztpraxis, der er vor elf Jahren als frischgebackener Internist beigetreten war - ein Jahr, bevor er und Celia sich kennengelernt und geheiratet hatten -, war Andrew jetzt der Seniorpartner. Der zweite Arzt, Oscar Aarons, ein stämmiger, lebhafter und eifriger Kanadier mit Sinn für Humor, hatte sich als eine wertvolle Stütze und als Freund erwiesen, dem Andrew großes Vertrauen entgegenbrachte. Und vor einem Monat war ein dritter Internist, Benton Fox, ein achtundzwanzigjähriger Arzt mit ausgezeichneten Empfehlungen, zu ihnen gestoßen und hatte sich bereits gut eingearbeitet.
Als Andrew Celia von seiner Absicht erzählte, sie gelegentlich auf ihren Reisen zu begleiten, war sie außer sich vor Freude, und so fuhr er mehrmals im Jahr mit ihr nach Südamerika. Und ab und zu, wenn es sich mit der Schule vereinbaren ließ, wurden sie von ihren Kindern begleitet.
Das alles wurde durch einige glückliche Umstände noch erleichtert. Winnie August, ihre junge englische Haushälterin, die ihren Plan, nach Australien zu gehen, längst aufgegeben hatte und nach sieben Jahren praktisch zur Familie gehörte, heiratete im Frühjahr 1967. Der Nachname ihres Mannes lautete, so unwahrscheinlich es auch klingt, April. »Wenn es schon ein anderer Monat sein mußte, dann bin ich froh, daß es nicht Dezember ist«, meinte Winnie dazu.
Als Andrew erfuhr, daß Hank April, ein liebenswerter, lebhafter junger Mann, eine feste Anstellung suchte, bot er ihm den Posten eines Chauffeurs und Gärtners an. Da dies auch eine Wohngelegenheit im Haus mit einschloß, wurde das Angebot sowohl von Winnie als auch von Hank freudig angenommen. So konnten Andrew und Celia von zu Hause fort - mit oder ohne die Kinoer - und sich darauf verlassen, daß sich während ihrer Abwesenheit jemand um alles kümmerte.
In diese Zeitspanne fiel der Tod von Celias Mutter Mildred. Sie starb nach einem schweren Asthmaanfall im Alter von einundsechzig Jahren.
Der Tod der Mutter traf Celia schwer. Trotz der Kraft und der Unterstützung, die Andrew und die Kinder ihr gaben, hatte sie ein Gefühl von »Einsamkeit«, das lange anhielt.
»Ich habe das schon bei vielen meiner Patienten erlebt«, sagte Andrew tröstend. »Der Tod des zweiten Elternteils ist wie das Durchtrennen einer Nabelschnur zu unserer Vergangenheit. Wie erwachsen wir auch sein mögen, solange noch ein Elternteil lebt, hat man immer das Gefühl, daß es jemanden gibt, an den man sich halten kann. Wenn beide fort sind, wissen wir, daß wir ganz auf uns allein gestellt sind.«
Auch Celias jüngere Schwester Janet war aus den Vereinigten Arabischen Emiraten zur Beerdigung nach Philadelphia gekommen. Janet und Celia verbrachten ein paar Tage zusammen in Morristown, und die beiden Schwestern gaben sich das Versprechen, einander in Zukunft häufiger zu besuchen.
6
Während Celia den lateinamerikanischen Geschäften mit den regionalen Repräsentanten der Zweigstellen von Felding-Roth nachging, genoß Andrew die faszinierende Atmosphäre fremder Städte und Länder. Er lernte den Parque Colön von Buenos Aires kennen und die großen Rinderherden in den Pampas. Und Bogota, in Kolumbien, umgeben von grandiosen Bergen, deren steil abfallende Straßen, die calles, eisige Wasserströme von den Anden ins Tal trugen und Eselskarren und Autos um einen Platz wetteifern ließen. In Costa Rica lernte Andrew die Meseta Central kennen, das Herzstück des Landes, und dahinter die dicht belaubten Wälder mit ihren Mahagonibäumen und Zedern. Von dem engen Straßengewirr in der Altstadt von Montevideo aus ging es in die Täler von Uruguay, in denen die Luft vom Duft der Zitronensträucher und aromatischen Büsche erfüllt war. Und dann Brasiliens dynamisches Sao Paulo mit den weiten Grasebenen und der fruchtbaren purpurroten Erde, der tan roxa.
Wenn die Kinder dabei waren, nahm Andrew sie mit auf seine Entdeckungsreise. Sonst zog er allein los, und Celia begleitete ihn, sooft es ihre Pflichten erlaubten.