»Die Arbeitsberichte, die ich Ihnen geschickt habe«, sagte Lord, »waren immer sehr vorsichtig abgefaßt. Das tue ich absichtlich, weil ich nicht will, daß Sie und die Bande vom Verkauf in helle Aufregung geraten über etwas, was sich noch im experimentellen Stadium befindet.«
»Das weiß ich«, sagte Sam, »und ich bin ganz Ihrer Ansicht.« Er wußte nur zu gut, daß es in jeder Arzneimittelfirma ein ständiges Tauziehen zwischen Verkauf und Herstellung auf der einen und der Forschungsabteilung auf der anderen Seite gab. Die Verkaufsleute sagten: »Die Forschung will bei jeder gottverdammten Kleinigkeit hundertundzehn Prozent Sicherheit, bevor wir losmarschieren können.« Und auch die Herstellung war darauf bedacht, die Produktion anzukurbeln, um nicht durch Aufträge überfordert zu werden, wenn ein neues Mittel plötzlich einschlug. Andererseits beschuldigten die Forscher die Verkaufsabteilung, »mit einem Produkt, das erst zu zwanzig Prozent erprobt ist, auf den Markt stürmen zu wollen, nur um die Konkurrenz zu übertrumpfen und in Führung zu gehen«.
»Was ich Ihnen jetzt sage und was nicht in meinen Berichten steht«, verriet Vincent Lord nun, »ist, daß wir mit zwei Verbindungen aufregend gute Ergebnisse erzielen - das eine ist ein Diuretikum, das andere ein entzündungshemmendes Mittel bei rheumatischer Arthritis.«
»Das höre ich gern.«
»Und dann läuft noch unser Antrag auf Genehmigung von De-rogil bei der FDA.«
»Das neue Mittel zur Senkung des Blutdrucks.« Sam wußte, daß Derogil kein revolutionäres Medikament war, sich aber gut verkaufen würde.
»Und geht es mit dem Antrag voran?« fragte er.
»Nicht daß ich wüßte«, erwiderte Lord mürrisch. »Diese aufgeblasenen Schwachköpfe in Washington . . .« Er machte eine Pause. »Ich werde nächste Woche noch mal hinfahren.«
»Trotzdem bin ich nicht der Ansicht, daß ich mit meiner Erklärung unrecht habe«, sagte Sam. »Aber da Sie es zu glauben scheinen, werde ich sie modifizieren, wenn der Aufsichtsrat zusammentritt.«
Vincent Lord nickte, und als wäre das Zugeständnis etwas, das ihm zustand, fuhr er fort: »Außerdem arbeite ich selbst noch immer an der Ausschaltung der freien Radikale. Wahrscheinlich glauben Sie nach all der Zeit nicht, daß noch irgend etwas dabei herauskommt . . .«
»Das habe ich nie behauptet«, protestierte Sam. »Nicht ein einziges Mal! Auch wenn Sie's nicht glauben, Vince, es gibt hier ein paar Leute, die Ihnen vertrauen. Außerdem wissen wir, daß sich wichtige Entwicklungen nicht übers Knie brechen lassen.«
Sam hatte nur eine vage Vorstellung davon, was die Ausschaltung der freien Radikale zu bedeuten hatte. Er wußte lediglich, daß Vincent Lord sich seit zehn Jahren damit beschäftigte, toxische Wirkungen von Arzneimitteln auszuschalten. Wenn er Erfolg hatte, würden sich daraus bedeutende kommerzielle Möglichkeiten eröffnen. Aber das war auch schon alles.
»Nichts von dem, was Sie vorgebracht haben«, bemerkte Sam, als er aufstand, »kann mich davon überzeugen, daß es keine gute Idee wäre, ein britisches Forschungszentrum ins Leben zu rufen.«
»Und ich bin noch immer dagegen, weil es überflüssig ist.« Die Antwort des Leiters der Forschungsabteilung klang unerschütterlich, auch wenn er wie in Gedanken hinzufügte: »Und falls es doch dazu käme, müßten wir die Sache von hier aus kontrollieren.«
Sam Hawthorne lächelte. »Darüber können wir später reden.« Aber er wußte genau, daß er auf keinen Fall zulassen würde, daß Vincent Lord die Kontrolle über das neue britische Forschungsinstitut bekam.
Lord schloß hinter Sam Hawthorne die Tür und ließ sich mit düsterer Miene in seinen Schreibtischsessel fallen. Er hatte das Ge-fühl, daß die Idee eines Felding-Roth-Forschungsinstituts in England trotz seines Widerstands verwirklicht werden würde, und er sah diese Entwicklung als eine Bedrohung und als ein Zeichen dafür an, daß ihm seine wissenschaftliche Vormachtstellung in der Firma entglitt. Wie lange würde es dann noch dauern, bis er völlig in den Schatten gestellt war?
Alles wäre anders, überlegte er trübsinnig, wenn seine eigenen Forschungen besser und schneller vorangingen. Aber wie die Dinge lagen, hatte er als Wissenschaftler tatsächlich nicht viel vorzuweisen. Er war jetzt achtundvierzig und nicht mehr der Wunderknabe mit dem frischgebackenen Doktortitel. Manche seiner Techniken und Kenntnisse waren, wie er sehr wohl wußte, veraltet. Gewiß, er las noch immer viel, um auf dem laufenden zu bleiben. Aber das konnte den mangelnden Kontakt zum wissenschaftlichen Bereich nicht ersetzen - in seinem Fall zu der organischen Chemie, die man zu einer Kunst gemacht hatte, bei der man sich von Instinkt und Erfahrung leiten ließ. Auf dem neuen Gebiet der Gentechnik, zum Beispiel, fühlte er sich nicht besonders zu Hause, jedenfalls nicht so wie die jungen Wissenschaftler, die gerade von den Universitäten kamen und von denen er einige für Felding-Roth angeworben hatte.
Trotzdem, versicherte er sich selbst, trotz all der Veränderungen und neuen Erkenntnisse bestand noch immer die Möglichkeit, daß ihm eines Tages ein gigantischer Durchbruch gelang. Innerhalb der Parameter der organischen Chemie existierte eine Antwort - eine Antwort auf seine Fragen, die er in zehn mühsamen, aufreibenden Forschungsjahren und in zahllosen Experimenten immer wieder gestellt hatte.
Die Ausschaltung der freien Radikale.
Die Antwort, nach der Vincent Lord suchte, würde enorme therapeutische Vorteile sowie unbegrenzte kommerzielle Möglichkeiten mit sich bringen, die Sam Hawthorne und die anderen in ihrer wissenschaftlichen Ignoranz noch gar nicht absehen konnten.
Was wäre durch die Ausschaltung der freien Radikale gewonnen?
Wie alle Wissenschaftler auf diesem Gebiet wußte Vincent Lord, daß viele Arzneimittel, wenn sie in den menschlichen Körper und seinen Stoffwechsel gelangen, »freie Radikale« erzeugen. Substanzen, die dem gesunden Gewebe schaden und sogar zum Tode führen können.
Die Ausschaltung der freien Radikale würde bedeuten, daß Medikamente, die bei einigen Patienten bisher nicht angewendet werden konnten, weil sie gefährliche Nebenwirkungen hervorriefen, nun für alle verträglich wurden und Mittel, die bisher mit großen Risiken verbunden waren, so gefahrlos eingenommen werden konnten wie Aspirin.
Die Ärzte würden sich, wenn sie ihren Patienten Rezepte ausschreiben, keine Gedanken mehr darüber machen müssen, ob ein Medikament verträglich war oder nicht. Krebspatienten brauchten keine Qualen mehr wegen solcher Mittel zu leiden, die dazu dienen sollten, sie am Leben zu erhalten, die aber häufig genug selbst den Tod herbeiführten. Alle positiven Wirkungen der Arzneimittel würden erhalten bleiben, und die lebensgefährlichen Nebeneffekte würden durch die Ausschaltung der freien Radikale beseitigt werden.
Was Vincent Lord herzustellen hoffte, war ein Mittel, das anderen Medikamenten hinzugefügt wurde, damit sie absolut sicher waren.
Es war möglich. Es gab eine Antwort. Aber noch verbarg sie sich, wich ihm aus, wartete darauf, sich finden zu lassen. Und nach zehn Jahren des Suchens glaubte Vincent Lord, dieser Antwort sehr nahe zu sein. Er konnte sie riechen, sie spüren, den Nektar des Erfolgs fast auf der Zunge schmecken.
Aber wie lange noch, wie lange würde er noch warten müssen?
Mit einem Ruck richtete er sich im Sessel auf. Er zog eine Schublade seines Schreibtischs auf und nahm einen Schlüssel heraus. Er wollte gleich noch einmal in sein privates Labor gehen, ein paar Schritte den Gang hinunter.
Vincent Lords Freund und Verbündeter im Aufsichtsrat von Fel-ding-Roth war Clinton Etheridge, ein erfolgreicher und prominenter New Yorker Rechtsanwalt, der den Anspruch erhob, wissenschaftliche Kenntnisse zu besitzen. Diesen Anspruch leitete Etheridge aus der Tatsache ab, daß er als junger Mann zwei Jahre lang Medizin studiert hatte, bevor er sich entschloß, zur Jurisprudenz überzuwechseln. Ein Bekannter hatte über diesen Wechsel einmal ironisch gesagt: »Clint stellte die Diagnose, wo das große Geld zu machen war, und verschrieb sich sofort den direktesten Weg dorthin.«