Etheridge war jetzt dreiundfünfzig. Daß sein kurzes, unvollständiges Medizinstudium mehr als ein Vierteljahrhundert zurücklag, hielt ihn nicht davon ab, bei jeder Gelegenheit im Brustton der Überzeugung Kommentare über wissenschaftliche Themen von sich zu geben, und zwar in vollendeter Gerichtssaalmanier und mit einem deutlichen Hinweis darauf, daß sie eigentlich in Stein gehauen und konserviert gehörten.
Vincent Lord machte sich das zunutze und schmeichelte Ethe-ridge, indem er ihn wie seinesgleichen behandelte. Auf diese Weise gelang es dem Leiter der Forschungsabteilung, dem Aufsichtsrat seine persönlichen Ansichten vortragen zu lassen, und noch dazu mit der routinierten Eindringlichkeit eines Rechtsanwalts.
Daher erstaunte es niemanden, daß Clinton Etheridge bei einer Sitzung des Aufsichtsrats, die einberufen worden war, um Sam Hawthornes Vorschlag eines britischen Forschungsinstituts zu diskutieren, die Opposition anführte.
Die Konferenz fand in der Felding-Roth-Zentrale in Boonton statt. Vierzehn der insgesamt sechzehn Aufsichtsratsmitglieder -ausschließlich Männer - waren um den traditionellen Walnußtisch des Konferenzraums versammelt.
Etheridge, groß, mit leicht gebeugten Schultern, der sich gern mit einer Lincolnschen Aura umgab, begann joviaclass="underline" »Hatten Sie gehofft, Sam, daß man drüben, falls diese pro-britische Sache durchgeht, so zufrieden mit Ihnen ist, daß Sie zum Tee in den Buckingham-Palast geladen werden?«
Sam schloß sich dem allgemeinen Gelächter an und parierte: »Worauf ich wirklich scharf bin, Clint, ist ein verlängertes Wochenende in Windsor Castle.«
»Nun«, erwiderte der Rechtsanwalt, »ein durchaus erreichbares Ziel; meiner Meinung nach allerdings auch das einzige.« Er wurde ernst. »Bei Ihrem Vorschlag scheinen Sie die enormen wissenschaftlichen Leistungen unseres eigenen Landes übersehen zu haben - das ja auch Ihr Land ist.«
Sam war diese Sitzung schon vorher in Gedanken durchgegangen und hatte nicht die Absicht, sich die Argumente wegschnappen zu lassen. »Ich habe die amerikanische Leistung auf wissenschaftlichem Gebiet nicht übersehen«, entgegenete er. »Wie könnte ich das? Wir sind ja von ihnen umgeben. Ich möchte sie nur ergänzen.«
Ein anderer warf ein: »Warum verwenden wir unser Geld dann nicht dazu, sie hier bei uns zu ergänzen?«
»Die Engländer selbst«, fuhr Etheridge beharrlich fort, »haben den Mythos genährt, daß die Wissenschaft auf ihrer kleinen Insel allen anderen überlegen sei. Aber wenn das zutrifft, warum herrscht dann in England der sogenannte Ausverkauf des Geistes - warum kommen dann so viele ihrer besten Köpfe hierher zu uns, um in der amerikanischen Forschung zu arbeiten?«
»Das tun sie in der Regel«, erwiderte Sam, »weil wir ihnen bessere Bedingungen bieten können und weil bei uns mehr Geld für Personal und technische Ausstattung zur Verfgügung steht. Aber Ihre Frage, Clint, bestärkt nur mein Argument. Dieses Land heißt englische Wissenschaftler willkommen, eben weil sie so gut sind.«
»Welches Gebiet in der wissenschaftlichen Forschung, das mit unserer Industrie zu tun hat«, fragte Etheridge, »ist Ihrer Meinung nach gegenwärtig das wichtigste, Sam?«
»Ohne Frage - die Gentechnik.«
»Genau.« Der Rechtsanwalt nickte und schien mit der Antwort zufrieden. »Und stimmt es etwa nicht - ich spreche nicht ohne Sachkenntnis, wie Sie wissen -, daß die USA in diesem Bereich allen anderen weit voraus war und es noch immer ist?«
Sam war versucht zu lächeln, unterließ es dann aber. Endlich einmal war dieser Pseudowissenschaftler falsch informiert.
»Das ist leider nicht ganz richtig, Clint«, sagte Sam. »Es war ein englischer Arzt namens William Harvey, der 1651 den Grundstein für die Erforschung der Gene gelegt hat. Und es war auch England, wo man 1908 mit Forschungen auf dem Gebiet der biochemischen Genetik begann. Dazwischen hat es auch andere Entdeckungen gegeben, zu denen der amerikanische Genetiker Dr. Hermann Muller in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts und auch später einen erheblichen Teil beigetragen hat. Aber die Krönung, die manchmal auch als >Explosion in der Genetik< bezeichnet wird, fand wiederum in England statt - das war 1953 in Cambridge, als Dr. Watson und Dr. Crick die Struktur des DNSMoleküls entdeckten und dafür einen Nobelpreis erhielten.« Jetzt lächelte Sam. »Übrigens ist Dr. Watson geborener Amerikaner, was beweist, daß die elementare Wissenschaft international ist.«
Mehrere Zuhörer kicherten in sich hinein, und Etheridge brachte es sogar fertig, kleinlaut dreinzuschauen. »Wie wir Rechtsanwälte immer sagen, gibt es Fragen, die man besser nicht gestellt hätte«, bemerkte er. Dann fügte er unbeirrt hinzu: »Aber nichts von dem kann meine Meinung ändern - daß die amerikanische Wissenschaft hinter keiner anderen zurücksteht; außerdem würde es unsere eigene Forschungskapazität einschränken, wenn wir uns zu sehr verzetteln und in einem anderen Land eine Zweigstelle errichten.«
Zustimmendes Gemurmel kam auf, bis Owen Norton, ein weiteres Mitglied des Gremiums, auf den Tisch klopfte, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Norton, eine achtunggebietende Persönlichkeit, war schon über siebzig und Präsident sowie Hauptaktionär eines Kommunikationsimperiums, zu dem auch eine Fernsehanstalt gehörte. Man war sich darin einig, daß Felding-Roth sich glücklich schätzen konnte, ihn dabeizuhaben. Nachdem er sich Aufmerksamkeit verschafft hatte, sprach er eindringlich und mit lauter, etwas krächzender Stimme. »Vielleicht darf ich Sie daran erinnern, daß wir hier ernste und wichtige Probleme besprechen, die für diese Firma von großer Bedeutung sind. Wir haben Sam Hawthorne zum Präsidenten gewählt, weil wir der Meinung sind, daß er fähig ist, diese Firma zu leiten und ihr neue Ideen und Impulse zu geben; nun hat er ein Konzept vorgelegt, das all dies beinhaltet, und was passiert? Clint und ein paar andere wollen uns dazu bringen, seinen Vorschlag mir nichts, dir nichts abzutun. Also, ich für meinen Teil mache da nicht mit.«
Owen Norton sah Etheridge, mit dem er schon bei früheren Sitzungen aneinandergeraten war, scharf an, und seine Stimme wurde ironisch. »Ich meine, Clint, daß Sie sich Ihre pubertären Polemiken für eine Jury aufheben sollten, die nicht so gut informiert ist wie die Teilnehmer dieser Sitzung.«
Es folgte ein Augenblick des Schweigens. Manch einer würde sich wundern, dachte Sam Hawthorne, daß Aufsichtsratssitzungen-selten auf einem Niveau geführt wurden, das man von ihnen erwartete. Auch wenn oft wichtige Entscheidungen getroffen wurden, gab es doch häufig genug erstaunlich kleinliche Zänkereien.
»Im Grund ist es doch verdammt egal, wessen Wissenschaft besser ist - die englische oder unsere«, fuhr Norton fort. »Darum geht es doch gar nicht.«
»Worum geht es dann?« fragte einer der Teilnehmer.
Norton schlug mit der Faust auf den Tisch. »Um Vielfalt! In jedem Geschäft, auch in meinem, ist es vorteilhaft, einen zweiten >Denk-Tank< zu haben, der völlig unabhängig operiert. Und vielleicht erreicht man diese Unabhängigkeit am besten, indem man einen Ozean dazwischenlegt.«
»Dadurch erreicht man vielleicht aber auch nur«, sagte ein anderer, »daß einem die Kosten davonrennen.«
Die Diskussion zog sich über eine Stunde lang hin, immer wieder wurden Gegenargumente und Alternativvorschläge vorgebracht. Einige Herren aber unterstützten Sams Vorschlag, der durch Owen Nortons Einwurf gestärkt worden war, und am Ende löste sich die Opposition auf. Schließlich wurde der ursprüngliche Vorschlag mit dreizehn zu einer Stimme angenommen - wobei Clinton Etheridge die einzige Gegenstimme abgab.