»Meine Mutter hatte das begriffen. Deshalb kaufte sie, als ich noch ganz klein war, ein Radio, und ich mußte stundenlang da-vorsitzen und den BBC-Sprechern zuhören. >So sollst du später einmal sprechen<, sagte sie zu mir. >DeshaIb mußt du schon jetzt damit anfangen, diese Leute nachzuahmen. Für deinen Dad und mich ist es zu spät, aber für dich nicht.<« Celia lauschte Martins angenehmer und kultivierter, aber ungekünstelter Stimme und sagte: »Es hat geklappt.«
»Ich glaube, ja. Aber das war nur eins von den vielen Dingen, die sie für mich getan hat. Sie hat zum Beispiel auch herausgefunden, wo meine schulischen Interessen lagen, und dann, was Stipendien sind, und sie hat dafür gesorgt, daß ich mich um eins bewarb. Das war in der Zeit, als wir zu Hause immer Streit hatten. Mein Vater hat es vorhin erwähnt.«
»Er war der Meinung, daß Ihre Mutter zu hoch hinaus wollte?«
»Er dachte, ich würde einmal Steinmetz werden wie er. Mein Vater glaubte an einen Vers von Dickens.« Martin lächelte, währen er zitierte:
»O laßt uns stets nach Arbeit streben, Nie über unsern Stand erheben, Von unserm täglich Brote leben, Der Herrschaft unsern Segen geben.«
»Aber Sie sind Ihrem Vater deswegen nicht böse?«
Martin schüttelte den Kopf. »Er hat es einfach nicht verstanden. Ich übrigens auch nicht. Nur meine Mutter begriff, was man mit Ehrgeiz erreichen konnte - und mit mir. Nun wissen Sie also, warum ich so an ihr hänge.«
»Ja«, sagte Celia »Und ich kann es sehr gut nachempfinden.«
Sie schwiegen, während der Kahn zwischen grünen Ufern mit dichtbelaubten Bäumen flußaufwärts fuhr.
Nach einer Weile sagte Celia: »Ihr Vater hat erwähnt, daß Sie für den Lebensunterhalt Ihrer Eltern aufkommen.«
»Ich tue, was ich kann«, gab Martin zu. »Zum Beispiel schicke ich zweimal die Woche vormittags eine Krankenschwester vorbei. Damit mein Vater eine kleine Verschnaufpause hat. Ich würde sie gern häufiger nehmen, aber . . .« Er zuckte die Achseln, ließ den Satz unvollendet und stakte den Kahn geschickt an ein grasbewachsenes Ufer in den Schatten einer Weide. »Wie wäre das als Picknick-Platz?«
»Idyllisch«, sagte Celia. »Wie von Camelot.«
Martin hatte einen Korb mit Garnelen, einer Melton Mowbray-Schweinefleischpastete, frischem grünen Salat, Erdbeeren und dicker, gelber Devonshire-Creme gefüllt. Es gab auch einen Wein - einen wohlschmeckenden Chablis - und eine Thermosflasche mit Kaffee. Sie aßen und tranken mit Genuß.
Als sie zum Abschluß den Kaffee tranken, sagte Celia: »Das war mein letztes Wochenende hier, bevor ich wieder nach Hause fahre. Es hätte nicht schöner sein können.«
»Sind Sie mit Ihrem Aufenthalt zufrieden?«
Sie wollte gerade mit einer Floskel antworten, als sie sich an Andrews Rat erinnerte: »Nein.«
»Warum nicht?« Martin schien erstaunt.
»Sam Hawthorne und ich haben den idealen Leiter für das Fel-ding-Roth-Forschungsinstitut gefunden, aber er wollte den Job nicht. Und jetzt kommt uns jeder andere zweitrangig vor.«
Nach kurzem Schweigen sagte Martin: »Ich nehme an, Sie sprechen von mir.«
»Das wissen Sie doch.«
Er seufzte. »Ich hoffe, Sie können mir meine Haltung verzeihen, Celia.«
»Da gibt es nichts zu verzeihen. Es ist Ihr Leben und Ihre Entscheidung«, versicherte sie ihm. »Nur, wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann waren es zwei Dinge, die . . .« Sie verstummte.
»Sprechen Sie weiter. Welche beiden Dinge?«
»Nun, vorhin haben Sie zugegeben, daß Sie gern der erste sein würden, der die Antworten auf die Alzheimersche Krankheit und das mentale Altern findet, aber daß eventuell andere vor Ihnen ans Ziel kommen könnten.«
Martin lehnte sich im Kahn zurück und sah Celia an; er hatte seinen Blazer zusammengefaltet und benutzte ihn als Kissen. »Andere stellen ähnliche Forschungen an wie ich. Ich weiß von zweien in Deutschland, von einem anderen in Frankreich und einem weiteren in Neuseeland - alles gute Leute, die dasselbe Ziel verfolgen. Es läßt sich nicht sagen, wer die Nase vorn hat oder ob überhaupt jemand einen Vorsprung hat.«
»Es ist also ein Wettlauf«, sagte Celia. »Gegen die Zeit.« Ihre Stimme hatte unbewußt einen schärferen Ton angenommen.
»Ja. Aber so ist das nun mal in der Wissenschaft.«
»Hat einer der anderen bessere Arbeitsbedingungen oder mehr Mitarbeiter als Sie?«
Er überlegte. »Wahrscheinlich die beiden in Deutschland. Bei den anderen weiß ich es nicht.«
»Wieviel Laborraum steht Ihnen jetzt zur Verfügung?«
»Alles in allem . . .«, Martin rechnete, »knapp hundert Quadratmeter.«
»Würde es Ihnen dann nicht helfen, schneller ans Ziel zu kommen, wenn Sie fünfmal soviel Platz hätten und dazu eine passende Ausrüstung - alles, was Sie benötigen, und alles nur für Ihr Projekt - und genügend Mitarbeiter, vielleicht zwanzig Leute statt zwei oder drei? Könnten Sie damit die Dinge nicht vorantreiben und die Antworten auf Ihre Fragen finden - und zwar als erster?«
Celia wurde bewußt, daß sich die Stimmung plötzlich verändert hatte. Jetzt waren sie nicht mehr zu ihrem privaten Vergnügen zusammen, nicht mehr so unbeschwert und zwanglos wie bisher. Eine intellektuelle Herausforderung war spürbar geworden. Aber schließlich, sagte sie sich, war sie ja aus diesem Grund nach England und heute nach Cambridge gekommen.
Martin starrte sie erstaunt an. »Meinen Sie das etwa im Ernst? Fünfhundert Quadratmeter und zwanzig Mitarbeiter?«
»Natürlich meine ich das ernst. Was dachten Sie denn?« Ungeduldig fügte sie hinzu: »Glauben Sie, daß man es sich im Pharma-Geschäft leisten kann, Scherze zu machen?«
»Nein«, sagte er und starrte sie noch immer an, »das glaube ich nicht. Sie sprachen von zwei Dingen. Was ist das andere?«
Celia zögerte. Sollte sie fortfahren? Sie spürte, daß das, was sie eben gesagt hatte, Eindruck auf Martin machte. Würde sie nicht alles zerstören? Dann fiel ihr wieder Andrew ein.
»Ich will es Ihnen sagen - ohne Umschweife und auf die übliche plumpe amerikanische Art«, begann Celia. »Und ich tue das nur, weil ich weiß, daß sich engagierte Forscher wie Sie nicht von Geld beeindrucken, sich nicht kaufen lassen. Aber wenn Sie für Felding-Roth arbeiten, als Leiter unseres neuen Instituts, und Ihr Projekt mitbringen, dann werden sie pro Jahr wahrscheinlich Zwölftausend Pfund verdienen und dazu einen nicht unerheblichen Bonus erhalten. Ich nehme an, das ist ungefähr fünfmal soviel, wie Sie im Augenblick verdienen. Außerdem glaube ich, nachdem ich Ihre Eltern kennengelernt habe, daß Sie ihnen gern noch mehr helfen würden. Mit dem höheren Einkommen wären Sie in der Lage, ihnen öfter als zweimal die Woche eine Krankenschwester zu schicken, Ihre Mutter in einer besseren Umgebung unterzubringen . . .«
»Jetzt reicht es!« Martin hatte sich aufgerichtet und starrte sie an. »Verdammt, Celia! Ich weiß, was man mit Geld machen kann. Also kommen Sie mir nicht mit dem Quatsch über Leute wie mich, denen es egal sein soll. Mir ist es absolut nicht egal - und Sie wollen mich damit in Versuchung führen, einen Vorteil daraus ziehen . . .«
»Das ist ja lächerlich!« fuhr sie ihn an. »Woraus einen Vorteil ziehen?«
»Daß Sie meine Eltern kennengelernt und gesehen haben, wie sie leben und wieviel mir an ihnen liegt. Sie bieten mir einen goldenen Apfel, spielen Eva.« Er sah sich um. »Und noch dazu in einem Paradies.«
»Es ist kein giftiger Apfel«, sagte Celia mit ruhiger Stimme, »und es ist auch keine Schlange in diesem Kahn. Hören Sie, es tut mir leid, wenn . . .«
»Es tut Ihnen überhaupt nicht leid!« unterbrach Martin sie wütend. »Sie sind eine Geschäftsfrau, die ihren Job versteht - sogar verdammt gut versteht, das kann ich Ihnen bescheinigen! Eine Geschäftsfrau, die aufs Ganze geht, die sich durch nichts davon abhalten läßt, zu kriegen, was sie haben will. Sie sind ziemlich skrupellos, stimmt's?«