Bei Celias Besuchen in Harlow sprach Martin mit ihr über die Laboranordnung, das Personal und die weiteren Einrichtungen. Der Umbau hatte bereits begonnen, aber bis das Institut fertig war, würde Martin in seinem Labor in Cambridge bleiben. Abgesehen von diesen notwendigen Ausflügen nach Harlow bestand Martin darauf, nicht zu sehr mit Verwaltungsangelegenheiten belastet zu werden, und fand bei Sam Hawthorne und Celia dafür Unterstützung.
Celia stellte einen Verwalter namens Nigel Bentley ein. Bentley war ein kleiner, selbstsicherer Mann von Mitte Fünfzig, der bis vor kurzem im Rang eines Majors in der Royal Air Force gedient hatte, wo ihm die Leitung eines großen RAF-Krankenhauses oblag.
In Celias Gegenwart sagte Bentley zu Martin: »Je weniger ich Sie störe, Sir, je weniger Sie mich zu Gesicht bekommen, desto besser verrichte ich meine Arbeit.« Was er gesagt hatte, gefiel Celia, auch das »Sir«, denn es war ein Hinweis darauf, daß Bentley verstand, wie sich die Beziehung zwischen ihm und dem viel jüngeren Wissenschaftler gestalten sollte.
Als Lisa im September 1972 vierzehnjährig das Elternhaus verließ, um in das Emma-Willard-Internat im nördlichen Teil des Staates New York einzutreten, seufzte Celia wehmütig: »Wo sind nur die Jahre geblieben?«
Die Antwort erhielt sie von der praktischen Lisa selbst: »Sie sind vorübergegangen, während du in deiner Firma Karriere gemacht hast, Mommy. Und ich habe mir ausgerechnet, daß ich gerade mit dem College fertig sein werde, wenn du Mr. Hawthor-nes Platz einnimmst.« Darüber mußten alle lachen, und die gute Stimmung hielt auch am nächsten Tag, als sie zusammen mit den anderen Familien in die Traditionen der Emma Willard School eingeführt wurden.
Zwei Wochen später kehrte Celia noch einmal nach England zurück. Sam Hawthorne, der als Präsident der Firma mit anderen Dingen beschäftigt war, hatte ihr die Verantwortung für das britische Institut fast völlig überlassen.
Im Februar 1973 wurde das >Felding-Roth Research Institute (U.K.) Limited< offiziell eröffnet. Gleichzeitig siedelte Dr. Martin Peat-Smiths Forschungsprojekte über die Alzheimersche Krankheit und den mentalen Alterungsprozeß von Cambridge nach Harlow um.
Die Firma hatte beschlossen, im Augenblick keine weiteren Forschungen in England zu beginnen, da - wie Sam dem Aufsichtsrat bei einer Sitzung in New Jersey anvertraute - »das Projekt, das wir verfolgen, zeitlich richtig liegt, verdammt aufregend ist und große kommerzielle Möglichkeiten birgt; daher sollten wir uns vorerst einzig und allein darauf konzentrieren«.
Die Eröffnung in Harlow ging ohne große Feierlichkeiten vonstatten. »Dafür«, erklärte Sam, der extra nach England gekommen war, »haben wir noch Zeit, wenn wir etwas vorzuzeigen haben, aber soweit sind wir noch nicht.«
Und wann würde es soweit sein?
»Geben Sie mir zwei Jahre«, sagte Martin zu Sam und Celia, als sie einen Augenblick allein waren. »Bis dahin müßte ich Fortschritte gemacht haben.«
Nach der Eröffnung des Instituts wurden Celias Besuche in England immer seltener und kürzer. Nigel Bentley schien das Vertrauen, das sie in ihn gesetzt hatten, in jeder Hinsicht zu rechtfertigen. Von Martin hörten sie in den folgenden Monaten kaum etwas, außer - durch Bentley - daß die Forschungen weiterliefen.
In der Zentrale von Felding-Roth in New Jersey übte Celia weiterhin die Funktion einer persönlichen Assistentin des Präsidenten aus und erledigte die Aufgaben, die Sam ihr übertrug.
Wie Millionen Menschen auf der ganzen Welt verfolgten Ce-Ha und Andrew in dieser Zeit den Ablauf des Dramas um Watergate auf dem Fernsehschirm, und Celia erinnerte sich, wie sie vor einem Jahr, als sie mit Sam nach Harlow gefahren war, den ersten Bericht über einen Einbruch in Watergate als unwichtig abgetan hatte.
Zur gleichen Zeit - was weniger bedeutend für die Öffentlichkeit, aber ein wichtiges Ereignis für die Familie Jordan war - verließ auch Bruce das Haus, um die Hill School in Pottstown, Pennsylvania, zu besuchen.
Bis ins Jahr 1975 hielt sich Felding-Roth, ohne daß etwas Spektakuläres hervorgebracht wurde, leidlich über Wasser. Das war zwei Präparaten zu verdanken - einem Antirheumaticum und Staidpace, einem Beta-Blocker, der den Herzschlag verlangsamte und den Blutdruck senkte. Das Antirheumaticum hatte nur begrenzt Erfolg, aber Staidpace erwies sich als ein ausgezeichnetes Präparat, das weite Verbreitung erfuhr.
Staidpace hätte Felding-Roth noch mehr Gewinne eingebracht, wenn die behördliche Genehmigung durch die Food an Drug Administration nicht über eine schier unzumutbar lange Zeit hinausgezögert worden wäre - nach Ansicht der Firma zwei Jahre länger als nötig.
In der FDA-Zentrale in Washington schien - nach Auffassung des frustrierten Vincent Lord - »eine infektiöse Abneigung« vor-zuherrschen, »irgendeine Entscheidung zu treffen«. Dieser Meinung waren auch andere Firmen der Pharma-Industrie. Berichten zufolge hatte ein leitender FDA-Mitarbeiter stolz ein Schild mit dem berühmten Versprechen des französischen Marschalls Pe-tain aus dem Ersten Weltkrieg auf seinen Schreibtisch gestellt: »Sie werden nicht durchkommen.« Das war deutlich genug.
Etwa zu dieser Zeit kam der Ausdruck »Pillenverzug« auf, der besagte, daß nützliche Arzneimittel, die andernorts schon Anwendung fanden, in den USA nicht verfügbar waren.
Aber die Antwort auf jede Bitte um schnellere Bearbeitung eines Zulassungsantrags für ein neues Arzneimittel lautete stets: »Denken Sie an Thalidomid!«
Sam Hawthorne griff die Einstellung in einer Rede vor einem Kongreß offen an. »Strenge Sicherheitsmaßstäbe«, erklärte er, »sind im öffentlichen Interesse notwendig, und vor gar nicht langer Zeit hat es davon zuwenig gegeben. Aber nun tut man des Guten zuviel, so daß sich die bürokratische Unentschlossenheit jetzt als nachteilig erweist. Was die Kritik an unserer Branche betrifft, der immer wieder das Thalidomid vorgehalten wird - so wird die Zahl der Neugeborenen, die durch Thalidomid Mißbildungen aufweisen, inzwischen von der Zahl derer übertroffen, die leiden mußten oder gar gestorben sind, weil wirksame Mittel, die bei uns durch die Verzögerung der Behörden zurückgehalten werden, nicht zur Verfügung standen, als sie benötigt wurden.«
Das waren harte Worte und der Beginn einer Diskussion, die sich über viele Jahre erstrecken sollte.
Die Entwicklung bei dem französischen Medikament Montayne, dessen Lizenz Sam für die Vereinigten Staaten erworben hatte, war noch immer nicht soweit gediehen, daß die gesetzlich vorgeschriebenen Tests für Sicherheit und Wirksamkeit in den USA anlaufen konnten. Es war also noch ein weiter Weg, bis bei der FDA überhaupt ein Zulassungsantrag gestellt werden konnte.
Montayne war ein Mittel, das die morgendliche Übelkeit bei schwangeren Frauen beheben sollte, was besonders für berufstätige Frauen eine große Erleichterung bedeuten würde. Die Firma, die das Medikament entwickelt hatte - Laboratoires Gironde-Chimie -, war von der Qualität und Unbedenklichkeit des Medikaments überzeugt, für das ungewöhnlich umfangreiche Versuche an Tieren und an Menschen, die sich freiwillig zur Verfü-gung gestellt hatten, durchgeführt worden war und die, wie die Pariser Firma Felding-Roth mitteilte, ausgezeichnete Ergebnisse ohne nachteilige Nebenwirkungen erbracht hatten. Trotzdem erklärte der Leiter von Gironde-Chimie Sam in einem persönlichen Brief:
»Die Vorkommnisse in der Vergangenheit und die besondere Problematik dieses Medikaments zwingen uns zu äußerster Vorsicht. Daher haben wir beschlossen, weitere Testserien an Tieren und Menschen durchzuführen. Das wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen.«
Sam mußte zugeben, daß bei dem vorherrschenden Klima zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen mehr als weise waren. Also wartete Felding-Roth weiterhin darauf, daß die Franzosen grünes Licht gaben, damit sie mit ihrer eigenen Arbeit an Montayne beginnen konnten.