TEIL DREI
1975-1977
1
Dr. Vincent Lord hatte Probleme, die seiner Einbildung entsprangen, aber er hatte auch welche, die ganz real waren. Eines dieser Probleme war die FDA.
Die Food and Drug Administration, die amerikanische Gesundheitsbehörde, deren Zentrale außerhalb von Washinghton, D.C., lag, stellte so etwas wie einen Hinderniskurs dar, den jedes neue Medikament und seine Antragsteller durchlaufen mußten, bevor das Mittel für den allgemeinen Verkauf zugelassen wurde. Manche Arzneimittel wurden nie genehmigt; sie blieben auf der Strecke. Und da die Antragsteller fast immer auch diejenigen waren, die das Mittel entdeckt hatten, es herstellen und schließlich auf den Markt bringen wollten, befanden sich die großen Pharma-Konzerne die meiste Zeit über in einem Zweikampf mit der FDA. Dies war, je nach Stand der Dinge, ein intellektuelles, wissenschaftliches Scharmützel oder aber der totale Krieg.
Was Vince Lord betraf, so handelte es sich um Krieg.
Zu seinen Aufgaben bei Felding-Roth gehörte es, mit der FDA zu verhandeln oder die Verhandlungen zu überwachen. Er haßte das. Er mochte auch die Leute dort nicht, fand einige sogar widerlich, mußte aber, um überhaupt etwas bei der FDA zu erreichen, diese Gefühle unterdrücken und für sich behalten. Beides fand er schwierig, ja fast unmöglich.
Natürlich war Dr. Lord - wie die Vertreter anderer Arzneimittelfirmen, die mit der FDA zu tun hatten - voreingenommen. Manchmal war diese Voreingenommenheit berechtigt. Manchmal nicht.
Das lag daran, daß von der FDA mehrere Dinge gleichzeitig gefordert wurden:
Sie sollte ein Hüter der öffentlichen Gesundheit sein, und ihre Pflicht war es, die Verbraucher vor Habgier, Inkompetenz, Gleichgültigkeit oder Sorglosigkeit zu schützen, Sünden, die jede pharmazeutische Firma irgendwann einmal beging, da sie ja in erster Linie daran interessiert war, Gewinne zu machen. Gleichzeitig sollte sie aber auch die Rolle eines »rettenden Engels« spielen, Bündnispartner derselben pharmazeutischen Firmen sein und in aller Eile jene neuen und wunderbaren Medikamente verfügbar machen, die Leben verlängerten oder Schmerzen verkürzten.
Andererseits war die FDA Prügelknabe für alle möglichen Kritiker - Arzneimittelfirmen, Interessengruppen und Verbraucherorganisationen, Journalisten, Autoren, Rechtsanwälte und Lobbyisten -, die sie beschuldigten, zu streng oder zu nachsichtig zu sein, je nachdem, aus welchem Lager sie kamen. Außerdem wurde die FDA regelmäßig von Kongreßmitgliedern und Senatoren als politische Plattform benutzt, um sich Vorteile und Publicity zu verschaffen.
Dazu kam, daß die FDA ein unübersichtliches bürokratisches Gebilde war, das aus den Nähten platzte, überlastet und in wichtigen Bereichen unterbesetzt war, da die Mediziner und Wissenschaftler unterbezahlt wurden.
In Anbetracht all dessen war es erstaunlich, daß die FDA trotz allem ihre Arbeit im großen und ganzen bemerkenswert gut erledigte.
Aber zweifellos gab es auch Mißstände, und der sogenannte Pillenverzug war einer davon.
Wie schlimm der Pillenverzug war, hing ganz davon ab, von welcher Warte aus man es betrachtete. Aber daß es ihn gab, räumte selbst die FDA ein.
Vincent Lord hatte unter dieser Situation zu leiden, als Fel-ding-Roth um die Zulassung von Staidpace in den Vereinigten Staaten nachsuchte. Staidpace war ein Herz- und Kreislaufmittel, das in Großbritannien, Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland und verschiedenen anderen Ländern bereits erfolgreich angewendet wurde.
Die FDA stellte die Bedingung, daß mit Staidpace, bevor es in die Regale der amerikanischen Drugstores gelangte und von Ärzten verschrieben wurde, zusätzliche ausgedehnte Untersuchungen auf Unbedenklichkeit und Wirksamkeit durchgeführt wurden. Eine berechtigte Forderung, gegen die bei Felding-Roth niemand etwas hatte, selbst Vincent Lord nicht.
Wogegen sie jedoch etwas hatten - nachdem alle geforderten Tests erfolgreich durchgeführt und die FDA über die Resultate informiert worden war -, das waren die beiden folgenden Jahre, in denen die Gesundheitsbehörde ihre Entscheidung durch Spitzfindigkeiten und Wortklaubereien hinauszögerte.
1972 lieferte Felding-Roth den Staidpace-Antrag mit Hilfe eines Lastwagens in der FDA-Zentrale ab: Der Antrag umfaßte 125.000 Druckseiten in 307 Bänden, die ausreichten, um ein ganzes Zimmer zu füllen. Dieses Material war dem Gesetz nach erforderlich und umfaßte Einzelheiten der zweijährigen Testserien an Tieren und Menschen in den Vereinigten Staaten.
Obgleich die Informationen so komplett waren wie nur möglich, waren alle Beteiligten sich darüber klar, daß niemand in der FDA das alles lesen konnte. Material in ähnlichem Umfang ging auch häufig von anderen Firmen ein.
Die FDA bestimmte einen ihrer medizinisch-wissenschaftlichen Mitarbeiter dazu, den Staidpace-Antrag zu bearbeiten und zu begutachten. Es handelte sich um Gideon R. Mace, einen ausgebildeten Arzt, der seit einem Jahr bei der FDA tätig war.
Andere Experten der Behörde sollten Dr. Mace nach Maßgabe ihrer Zeit unterstützen.
Außerdem würde die FDA im Verlauf ihrer Prüfung Wissenschaftler von Felding-Roth heranziehen, um sich dies und jenes erläutern zu lassen oder weitere Informationen einzuholen. Das war ein normaler Vorgang.
Nicht ganz so normal allerdings war die Arbeitsweise von Dr. Mace. Er arbeitete im Schneckentempo - selbst für die Maßstäbe der FDA. Außerdem war er übertrieben pingelig und hatte an allem etwas auszusetzen.
Kein Wunder, daß Gideon Mace zu den Mitarbeitern der FDA gehörte, die Vincent Lord verabscheute.
Lord hatte den Staidpace-Antrag persönlich überwacht und war überzeugt, daß er vollständiger und sorgfältiger war als jeder Antrag, den die Firma gestellt hatte. Daher wuchs Lords Frustration, als Monat um Monat verging und die Entscheidung ausblieb. Als man endlich etwas von Mace hörte, ging es lediglich um Kleinigkeiten, und in der Folge »schien er jedes verdammte Komma in Frage zu stellen, was nicht das geringste mit der Sache selbst zu tun hatte« - wie einer von Lords Assistenten es ausdrückte. Genauso ärgerlich war es, daß Mace mehrmals dringend zusätzliche Daten anforderte und es sich dann herausstellte, daß das Verlangte in den Unterlagen bereits enthalten war. Lieferte man ihm die Daten, brauchte er wieder mehrere Wochen, um den Empfang - dazu noch höchst ungnädig - zu bestätigen.
Nachdem er sich das eine ganze Weile mit angesehen hatte, nahm Vincent Lord die Sache selbst in die Hand und entschloß sich zu tun, was ihm am meisten verhaßt war - er begab sich zur Gesundheitsbehörde.
Die FDA-Zentrale lag etwa fünfzehn Meilen nördlich von Washington, eine mühsame Autostunde vom Weißen Haus oder dem Capitol Hill entfernt. Sie war in einem einfachen Ziegelgebäude untergebracht, das wie ein »E« geformt und in den sechziger Jahren ohne jede architektonische Phantasie errichtet worden war.
Die Büros, in denen siebentausend Menschen arbeiteten, waren winzig und überfüllt. Viele hatten keine Fenster. Andere waren mit Menschen und Möbeln so vollgestopft, daß man sich kaum darin bewegen konnte. Der verbleibende Raum war mit Akten gefüllt. Stöße, Stapel, Tonnen davon. Akten über Akten. Die Postzentrale war ein Alptraum, und jeden Tag rollten weitere Papierlawinen an. Die Ströme bewegten sich in zwei Richtungen - allerdings erreichte die hinausgehende Post nicht annähernd den Umfang der hereinströmenden.
Dr. Gideon Mace arbeitete im zehnten Stockwerk in einem Raum, der nicht viel größer war als ein Schrank. Mace war Ende fünfzig, groß und hager, mit auffallend langem Hals, der immer wieder zu Giraffenwitzen Anlaß gab. Sein Gesicht war rot, die Nase mit Äderchen durchzogen. Er blinzelte durch eine randlose Brille. Im Gespräch gab er sich ironisch und war leicht zu verärgern. Dr. Mace trug gewöhnlich einen alten grauen, zerknitterten Anzug und eine ausgeblichene Krawatte.