»Als das Institut eingerichtet wurde, haben Sie gesagt: >Geben Sie mir zwei Jahre.< Sie erhofften sich in dieser Zeit positive Resultate. Das war vor zwei Jahren und vier Monaten.«
Er schien überrascht. »Habe ich das wirklich gesagt?«
»Ja. Sam erinnert sich genau daran. Und ich auch.«
»Dann war das ziemlich unüberlegt von mir. Bei unserer Forschungsarbeit lassen sich keine Zeitpläne aufstellen.« Martin gab sich noch immer zuversichtlich, aber Celia spürte seine Anspannung. Auch körperlich schien Martin nicht in besonders guter Verfassung. Er war blaß, seine Augen sahen müde aus, und in sein Gesicht hatten sich Falten eingegraben, die sie vor zwei Jahren noch nicht bemerkt hatte.
»Martin«, sagte Celia, »warum schicken Sie uns keine Arbeitsberichte? Sam muß sich vor dem Aufsichtsrat und den Aktionären rechtfertigen . . .«
Martin schüttelte ungeduldig den Kopf. »Es ist wichtiger, daß ich mich auf die Forschungsarbeit konzentriere. Mit diesem ganzen Papierkram verplempert man nur seine Zeit.« Und dann fragte er unvermittelt: »Haben Sie John Locke gelesen?«
»Im College - ein wenig.«
»Er schreibt, daß der Mensch Entdeckungen macht, indem er >seine Gedanken ständig in eine Richtung lenkt<. Ein Wissenschaftler darf das nie vergessen.«
Celia beließ es für den Augenblick dabei, aber später griff sie das Thema mit dem Verwalter, Ex-Major Bentley, wieder auf, der einen anderen Grund für das Ausbleiben von Berichten andeutete.
»Für Dr. Peat-Smith scheint es außerordentlich schwierig zu sein, überhaupt etwas schriftlich niederzulegen«, erklärte er. »Vielleicht, weil er der Ansicht ist, daß das, was für ihn gestern wichtig war, heute längst überholt sein kann. Am liebsten würde er alles, was er je geschrieben hat, wieder vernichten. Das habe ich bei Wissenschaftlern häufig erlebt. Womöglich liegt es daran, daß sie sich ständig weiterbilden und erst sehr spät mit den Realitäten des Alltagslebens konfrontiert werden. Es hat große Gelehrte gegeben, die im Alltag nie zurechtgekommen sind. Man findet in akademischen Kreisen zuweilen auch ein geradezu kindisches Benehmen - kleinliche Zänkereien und dergleichen bei ganz banalen Dingen.«
»Ich hätte nicht gedacht, daß das auch auf Martin Peat-Smith zutrifft«, sagte Celia nachdenklich.
»Vielleicht nicht auf diese Weise«, stimmte Bently zu. »Aber Dr. Peat-Smith hat zum Beispiel Schwierigkeiten, ganz unbedeutende Entscheidungen zu treffen. Er kann sich wochenlang damit herumquälen, welchen von zwei Laboranten er einstellen oder ob er an einem dreitägigen Seminar in London teilnehmen soll. Das sind Kleinigkeiten, die Sie oder ich in ein paar Minuten klären würden, und es ist schon oft vorgekommen, daß schließlich ich die Entscheidungen getroffen habe, weil mein Vorgesetzter sich nicht dazu durchringen konnte. All das berührt natürlich keineswegs Dr. Peat-Smiths wissenschaftliche Integrität und Hin-gabe.«
»Jetzt wird mir manches klarer«, sagte Celia. »Auch warum Martin uns keine Berichte geschickt hat.«
»Da wäre noch etwas, das ich vielleicht erwähnen sollte.«
»Reden Sie.«
»Dr. Peat-Smith ist der Leiter dieses Projekts, und jemand, der eine Führungsfunktion ausübt, kann es sich nicht leisten, Schwächen oder Zweifel zu zeigen. Darunter würde die Moral seiner Mitarbeiter leiden. Und außerdem: Dr. Peat-Smith war es gewohnt, immer allein zu arbeiten, sein Tempo selbst zu bestimmen. Jetzt trägt er plötzlich die Verantwortung für viele Menschen, die von ihm abhängig sind, und sieht sich nun auch noch durch Ihre Anwesenheit, Mrs. Jordan, unter Druck gesetzt.«
»Dann bestehen also doch Zweifel hinsichtlich der Arbeit?« fragte Celia.
Bentley, der Celia in seinem Büro am Schreibtisch gegenübersaß, legte die Fingerspitzen gegeneinander und sah sie nachdenklich an. »Ich habe eine Verpflichtung gegenüber Dr. Peat-Smith, aber ich habe auch Ihnen und Mr. Hawthorne gegenüber eine Verpflichtung - und die schätze ich höher ein. Daher muß ich Ihnen Ihre Frage ehrlich beantworten: Ja, es gibt Zweifel.«
»Ich möchte gern mehr darüber wissen«, sagte Celia.
»Von den wissenschaftlichen Dingen verstehe ich zuwenig«, erwiderte Bentley zögernd. »Vielleicht sollten Sie sich aber einmal ganz privat mit Dr. Sastri unterhalten. Bitten Sie ihn, ganz offen mit Ihnen zu reden.«
Dr. Rao Sastri war, wie Celia wußte, der auf Nukleinsäuren spezialisierte Chemiker, ein Pakistani, den Martin zu seinem Stellvertreter gemacht hatte.
»Vielen Dank, Mr. Bentley, ich werde Ihrem Rat gern folgen«, sagte Celia.
»Kann ich Ihnen sonst noch behilflich sein?«
Celia überlegte. »Martin erwähnte heute John Locke. Ist er ein Anhänger von Locke?«
»Ja, und ich auch.« Bentley lächelte. »Wir sind beide der Überzeugung, daß Locke zu den größten Philosophen gehört, die es je gegeben hat.«
»Ich würde heute abend gern etwas von Locke lesen«, sagte Celia. »Können Sie mir etwas besorgen?«
»Ich werde es in Ihr Hotel schicken lassen.«
Erst am späten Nachmittag des zweiten Tages kam Celia dazu, mit Dr. Sastri zu sprechen. Nach ihrem Gespräch mit Nigel Bentley hatte sie sich mit anderen Mitarbeitern des Instituts unterhalten, die alle guten Mutes und optimistisch zu sein schienen. Trotzdem hatte Celia das Gefühl, daß man etwas vor ihr verbarg, und daß niemand ganz aufrichtig war.
Rao Sastri war ein gutaussehender, dunkelhäutiger junger Mann von Ende Zwanzig. Celia wußte, daß er einen ausgezeichneten Ruf als Wissenschaftler genoß. Sastri und Celia trafen sich unter vier Augen in einem Nebenraum der Cafeteria, der von den leitenden Angestellten gewöhnlich für gemeinsame Abendessen benutzt wurde.
»Ich nehme an, Sie wissen, wer ich bin«, sagte Celia nach der Begrüßung.
»Ja, Mrs. Jordan. Mein Kollege Peat-Smith hat oft und sehr freundlich von Ihnen gesprochen. Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen.«
»Ich freue mich ebenfalls, Sie kennenzulernen«, sagte Celia, »und ich würde mich gern mit Ihnen über die Fortschritte bei Ihrem Forschungsvorhaben unterhalten.«
»Alles läuft ganz wunderbar!«
»Ja«, bemerkte Celia, »das haben mir alle anderen auch schon versichert. Aber bevor wir weiterreden, möchte ich gern klarstellen, daß ich in Vertretung von Mr. Hawthorne, dem Präsidenten von Felding-Roth, hier bin und alle Vollmachten besitze.«
»O je! Ich frage mich, was jetzt kommt.«
»Ich muß Sie bitten, Dr. Sastri, nein, Sie auffordern, ganz offen mit mir zu sein und auch nicht mit eventuellen bisher nicht geäußerten Zweifeln hinter dem Berg zu halten.«
»Das ist mir aber sehr peinlich«, sagte Sastri. »Und auch nicht ganz fair, wie ich Bentley schon gesagt habe, der mich über das bevorstehende Gespräch informierte. Ich habe schließlich Peat-Smith gegenüber eine Verpflichtung, und er ist ein anständiger Kerl.«
»Sie haben Felding-Roth gegenüber eine noch größere Verpflichtung«, klärte Celia ihn in scharfem Ton auf. »Die Firma zahlt Ihr Gehalt - ein gutes Gehalt - und hat daher Anspruch auf Ihre ehrliche, fundierte Meinung.«
»Sie reden nicht lange um den heißen Brei herum, nicht wahr?«
»Dafür habe ich keine Zeit, da ich morgen schon wieder nach Amerika zurückfliegen muß. Sagen Sie mir also bitte möglichst genau, wie es Ihrer Meinung nach um die Forschungen im Institut steht und in welche Richtung sie sich bewegen.«
Sastri hob resignierend die Hände und stieß einen Seufzer aus. »Mit den Forschungen steht es nicht besonders gut. Und meiner bescheidenen Meinung nach - wie auch der vieler anderer, die an diesem Projekt beteiligt sind - führen sie nirgendwohin.«
»Erklären Sie mir das genauer.«
»In mehr als zwei Jahren haben wir nichts weiter erreicht, als die Theorie zu bestätigen, daß mit fortschreitendem Alter in der Gehirn-DNS Veränderungen stattfinden. Gewiß, das ist eine interessante Erkenntnis, aber dahinter türmt sich eine verdammte Mauer auf, und wir besitzen keine geeigneten Techniken, um sie zu durchdringen. Und selbst im positiven Fall könnte sich herausstellen, daß das von Peat-Smith postulierte Peptid gar nicht dahinter zu finden ist.«