Vor mehr als sechshundert Jahren, bevor Churchgate in ein Hotel umgewandelt wurde, hatte an dieser Stelle eine Votivka-pelle gestanden, die später ein Privathaus wurde. Reste der Bauweise aus der Zeit Jakobs I. waren in dem hübschen Hotel noch zu erkennen, das vergrößert und renoviert worden war, als Har-low nach dem Zweiten Weltkrieg vom Dorf zur Stadtgemeinde aufstieg. Der Speisesaal gehörte zu diesen historischen Überbleibseln.
Celia mochte die Atmosphäre - die niedrige Decke, die gepolsterten Fensterbänke, die Tischtücher aus rot-weiß gemustertem Leinen, den angenehmen Service, zu dem es gehörte, die Speisen aufzutragen, bevor die Gäste aus der angrenzenden Bar zu Tisch gebeten wurden, wo sie die Bestellung zuvor aufgegeben hatten.
An diesem Abend saß Celia auf einer der Fensterbänke, Martin ihr gegenüber. Sie hörte ihm zu, warf gelegentlich eine Frage ein, während Martin selbstsicher über wissenschaftliche Dinge redete. Aber Nigel Bentleys Worte waren ihr noch frisch im Gedächtnis. »Dr. Peat-Smith ist der Leiter dieses Projekts, er kann es sich nicht leisten, Schwächen oder Zweifel zu zeigen. . . ««
War Martin trotz der festen Zuversicht, die er nach außen hin bekundete, dennoch unsicher? Celia überlegte, wie sie das herausfinden konnte. Eine Idee war ihr beim Lesen des Buchs gekommen, das ihr Nigel Bentley - wie versprochen - ins Hotel geschickt hatte.
Sie sah ihn offen an. »Vorhin, bei Ihnen zu Hause, sprachen Sie von wissenschaftlicher Arroganz.«
»Verstehen Sie das, bitte, nicht falsch«, gab er zurück. »Das war positiv, nicht negativ gemeint - eine Kombination aus Wissen und dem Willen, der eigenen Arbeit kritisch gegenüberzutreten, aber auch aus einer Überzeugung, die ein erfolgreicher Wissenschaftler unbedingt braucht, um überleben zu können.«
Bei diesen Worten hatte Celia zum ersten Mal das Gefühl, eine Andeutung von Schwäche in der zur Schau getragenen Zuversicht zu entdecken.
»Wäre es nicht möglich«, fragte sie, »daß wissenschaftliche Arroganz, oder wie man es nennen will, auch einmal zu weit gehen kann? Daß jemand einfach nur von dem überzeugt ist, was er glauben will, und daß am Ende alles nur Wunschdenken wird?«
»Schon möglich«, erwiderte Martin. »Wenn auch nicht in diesem Fall.«
Aber seine Stimme klang flach, nicht mehr so überzeugend wie zuvor. Jetzt war sie sich ganz sicher. Sie hatte einen schwachen Punkt berührt, und er war nahe daran, es einzugestehen.
»Ich hab' gestern abend etwas gelesen«, fuhr Celia fort. »Ich hab's mir aufgeschrieben, aber ich könnte mir denken, daß Sie es kennen.« Sie zog einen Hotelbriefbogen aus ihrer Tasche und las vor:
»Ein Irrtum entsteht nicht durch einen Mangel an Wissen, sondern durch ein mangelhaftes Urteil . . . Wer in seinem Kopf nicht eine Folge von Konsequenzen durchdenken oder gegenteilige Beweise richtig abwägen kann . . . läßt sich vielleicht dazu verleiten, Positionen einzunehmen, die nicht wahrscheinlich sind.«
Es entstand eine Pause, dann sagte Celia, wohl wissend, wie rücksichtslos, ja grausam sie war: »Das stammt aus einem Essay von John Locke, an den Sie glauben und den Sie verehren.« »Ja«, sagte er, »ich weiß.«
»Könnte es nicht sein«, bohrte sie weiter, »daß Sie diese >gegenteiligen Beweise< nicht richtig abwägen und daß Sie ^Positionen einnehmen, die nicht wahrscheinlich sind<?«
Martin sah sie an, in seinen Augen lag eine stumme Anklage. »Glauben Sie das wirklich?« »Ja, das glaube ich«, sagte Celia ruhig.
»Tut mir leid, dann . . .« Er erstickte fast an den Worten, und sie erkannte seine Stimme kaum wieder. »Dann . . . gebe ich auf.«
Martins Gesicht war aschfahl geworden, sein Mund stand offen, der Unterkiefer klappte herunter. Er stammelte unzusammenhängende Worte. ». . . sagen Sie Ihren Leuten, daß sie Schluß machen sollen . . . sie sollen zumachen . . . ich glaube daran, aber vielleicht bin ich nicht gut genug, nicht allein . . . Wonach wir gesucht haben, wird gefunden werden . . . es wird geschehen, muß geschehen . . . aber irgendwo anders . . .«
Celia war entsetzt. Was hatte sie angerichtet? Sie hatte Martin einen Schock versetzen wollen, um ihn in die Realität zurückzuholen, aber so weit hatte sie nicht gehen wollen. Die Anspannung der letzten beiden Jahre, die Verantwortung, die er ganz allein getragen hatte - all das hatte seinen Preis gefordert. Wieder hörte sie Martins Stimme: ». . . müde, so müde . . .« Celia verspürte den übermächtigen Wunsch, ihn in die Arme zu nehmen und zu trösten. Und ganz plötzlich wußte sie, was als nächstes geschehen würde. »Martin«, sagte sie entschlossen, »lassen Sie uns von hier verschwinden.«
Eine Kellnerin, die an ihrem Tisch vorbeikam, warf ihnen einen neugierigen Blick zu. Celia war aufgestanden. »Schreiben Sie alles auf meine Rechnung. Meinem Freund geht es nicht gut«, sagte sie.
»Gewiß, Mrs. Jordan.« Das Mädchen schob den Tisch beiseite. »Brauchen Sie Hilfe?«
»Nein, danke. Es geht schon.« Sie ergriff Martins Arm und führte ihn hinaus, durch die Halle, die Treppe hinauf in ihr Zimmer.
Auch dieser Teil des Gebäudes war aus der Zeit Jakobs 1. erhalten geblieben. Das rechteckige Schlafzimmer hatte eine niedrige, stuckverzierte Decke, mit Eichenholz verkleidete Wände und einen mit Steinen eingefaßten Kamin. Die Fenster waren klein und erinnerten daran, daß Glas im siebzehnten Jahrhundert ein Luxus gewesen war.
Das große Himmelbett war bereits für die Nacht hergerichtet, die Decken waren zurückgeschlagen und Celias Nachthemd über ein Kissen gebreitet.
Celia mußte daran denken, was sich im Laufe der Jahrhunderte in diesem Zimmer abgespielt haben mochte: Geburt und Tod, Krankheiten, Leidenschaften, Freude und Kummer, Streit, geheime Zusammenkünfte. Heute würde zu dieser Liste noch etwas hinzukommen . . .
Martin war noch immer benommen und sah sie unsicher an. Sie nahm das Nachthemd vom Bett und sagte, während sie zum Badezimmer ging, sanft: »Zieh dich aus und leg dich ins Bett. Ich bin gleich bei dir.«
Als er sie nur anstarrte, noch immer reglos, flüsterte sie ihm zu: »Das möchtest du doch auch, nicht wahr?«
Ein Stöhnen entrang sich seiner Brust: »O mein Gott, ja!«
Sie hielten sich fest umschlungen, und sie tröstete ihn, wie man ein Kind tröstet. Dann spürte sie, wie Martins Verlangen nach ihr wuchs und wie ihr eigenes erwachte. Martin hatte diesen Augen-blick gewollt, und Celia wußte, daß auch sie sich danach gesehnt hatte. Seit ihrer ersten Begegnung in Cambridge, als etwas Stärkeres als nur flüchtige gegenseitige Zuneigung zwischen ihnen aufgeflammt war, waren sie unvermeidlich darauf zugetrieben. Von Anfang an war es nie darum gegangen, »ob«, sondern immer nur: »Wann?«
Daß es sich hier und jetzt ereignete, war ein reiner Zufall. Wenn nicht an diesem Abend, so wäre es zu einem anderen Zeitpunkt geschehen - jede Begegnung hätte sie diesem schicksalhaften Augenblick näher gebracht.
Während sie sich leidenschaftlich küßten, spürte sie seinen Körper. Alle Fragen und Zweifel verstummten. Celia hatte für nichts anderes mehr Kraft, als das Verlangen zu stillen, das sie erfüllte - und das mit Martins Verlangen verschmolz. Dann schrien sie beide auf vor Liebe und Glück. Später schliefen sie erschöpft ein. Als sie gegen Morgen aufwachten, liebten sie sich noch einmal, sanfter diesmal und zarter.
Und als Celia das nächste Mal erwachte, fiel helles Tageslicht durch die altmodischen Fenster ins Zimmer.
Martin war nicht mehr bei ihr. Er hatte eine Nachricht hinterlassen.
Liebste, Du warst und bist für mich eine Inspiration.
Heute früh, während Du schliefst, hatte ich eine Idee, vielleicht die Lösung unseres Problems. Ich gehe ins Labor, wenn ich auch weiß, daß mir nicht viel Zeit bleibt, um herauszufin- den, ob es uns weiterbringt.