Der berühmteste Irrgarten der Welt, vermutlich im 17. Jahrhundert für William III. von England angelegt, befand ich im Hampton Court Palace, westlich von London.
Der kleine Irrgarten des Harlower Labors war eine detailgetreue Nachbildung aus Furnierholz, die ein Wissenschaftler des Instituts in seiner Freizeit angefertigt hatte - mit dem Unterschied, daß er ausschließlich von Ratten benutzt wurde.
Man setzte die Ratten nacheinander an den Eingang zum Labyrinth und überließ sie dann - manchmal nach einem kleinen Schubs - sich selbst. Hatten sie den Weg hinaus gefunden, erwartete sie dort eine Belohnung in Form von Nahrung. Und man hielt fest, wie lange ihre jeweiligen Bemühungen dauerten.
Bis vor kurzem waren die Ergebnisse der Tests voraussagbar gewesen. Junge wie alte Ratten, zum ersten Mal im Labyrinth ausgesetzt, hatten zunächst Mühe, den Ausgang zu finden. Bei der zweiten Runde jedoch kamen die jungen Ratten bereits schneller zu ihrer Belohnung, und beim dritten Mal ging es noch schneller, und so fort.
Die jungen Ratten lernten aus Erfahrung, erinnerten sich, wo sie abbiegen mußten und wo nicht.
Im Gegensatz zu den jungen lernten die alten Ratten kaum oder waren viel langsamer.
Bis zur Injektion der neuesten Peptid-Lösung. Danach war eine Verbesserung unverkennbar. Wenn die alten Ratten sich zum dritten oder vierten Mal im Labyrinth befanden, rasten sie buchstäblich durch die Gänge, meist ohne zu zögern oder Fehler zu machen. Zwischen den jungen und den alten Ratten gab es jetzt kaum noch einen Unterschied.
Als weitere Tests die gleichen Ergebnisse erbrachten, wurden die Wissenschaftler immer aufgeregter. Nach einer spektakulären Vorführung mit einer schon älteren, dicken Ratte spendeten sie lauten Beifall. Rao Sastri schüttelte Martin die Hand. »Großer Gott! Sie hatten recht. Jetzt können Sie mit vollem Recht zu uns allen sagen: >O ihr Kleingläubigen.««
Martin wehrte ab. »Ich hatte auch schon fast den Glauben verloren.«
»Das nehme ich Ihnen nicht ab«, sagte Sastri. »Sie sind ein Gentleman und sagen das nur, weil Sie Ihre kleinmütigen Kollegen nicht beschämen wollen.«
»Wie auch immer«, meinte Martin erfreut, »ich glaube, wir haben jetzt etwas nach Amerika zu melden.«
Der Bericht traf bei Felding-Roth zu der Zeit ein, als die Vorbereitungen für den Start von Montayne auf Hochtouren liefen, und kurz bevor Celia zu zweifeln begann, ob es ratsam sei, damit fortzufahren.
Aber noch während der Bericht in New Jersey studiert wurde, sah man sich in Harlow einem neuen Problem gegenüber.
Trotz günstiger Bedingungen hatten sich bei dem jüngsten Peptid-Gemisch Schwierigkeiten ergeben. Wie die vorherigen stand es nur in begrenzter Menge zur Verfügung. Um das wesentliche Gedächtnis-Peptid zu identifizieren und zu isolieren, waren größere Mengen nötig.
Um an größere Mengen zu kommen, wählte Martin den Weg über die Produktion von Antikörpern. Diese würden sich mit dem gewünschten Peptid verbinden und es isolieren ... Zu diesem Zweck waren Kaninchen besser geeignet als Ratten, da sie größere Mengen Antikörper produzierten.
Hier trat Gertrude Tilwick auf den Plan.
Die Tierpflegerin des Instituts war eine strenge Frau um die Vierzig mit verkniffenen Lippen. Nigel Bentley hatte sie erst vor kurzem eingestellt, und bis jetzt hatten sie und Martin wenig miteinander zu tun gehabt.
Auf Martins Bitte brachte Miß Tilwick mehrere Käfige mit Kaninchen in sein Labor. Er hatte ihr zuvor erklärt, daß das unverarbeitete Peptid-Gemisch in einer öligen Lösung - einem »Adju-vans« - in die Pfoten der Kaninchen injiziert werden müßte. Ein schmerzhafter Vorgang. Daher mußte man die Tiere während der Injektion festhalten.
Miß Tilwick brachte außer den Kaninchen auch ein kleines flaches Brett mit, an dem vier Riemen befestigt waren. Sie öffnete einen Käfig, zog ein Kaninchen heraus und legte es mit dem Bauch nach oben auf das Brett. Während das Tier ausgestreckt dalag, schnallte sie jedes Bein an einer der vier Ecken fest.
Sie hantierte grob und gleichgültig, ihre ganze Haltung drückte Gefühllosigkeit aus. Während ihr Martin entsetzt zusah, schrie das verängstigte Tier. Er hatte nicht gewußt, daß Kaninchen so schreien konnten - ein schrecklicher Ton. Dann war es still, und bevor alle vier Beine angeschnallt waren, war das Tier bereits tot, ganz offensichtlich vor Angst und Schreck gestorben.
Wieder bekam Martin wegen eines Tieres einen seiner seltenen Wutanfälle. Er warf Miß Tilwick hinaus.
Danach ließ Martin Nigel Bentley zu sich rufen und erklärte ihm, daß jemand, der dem Leiden von Tieren gegenüber derart unempfindlich sei wie Miß Tilwick, nicht länger im Institut bleiben könne.
»Selbstverständlich«, stimmte Bentley zu, »muß Miß Tilwick gehen. Es tut mir leid. Als Laborantin schien sie qualifiziert -offensichtlich aber nicht für Versuche an Tieren.«
»Wir brauchen jemanden, der mit den Tieren sanft und sorgsam umgeht«, sagte Martin. »Haben Sie jemanden?«
»Miß Tilwicks Assistentin. Wenn sie ihre Sache ordentlich macht, werden wir sie befördern.«
Und Yvonne Evans erschien.
Yvonne war fünfundzwanzig, fröhlich und attraktiv, mit langen blonden Haaren, unschuldigen blauen Augen, einer rosigen Haut und leichtem Übergewicht. Sie kam aus Brecon, einem kleinen ländlichen Ort in den Black Mountains von Wales, und der singende Tonfall dieser Gegend war noch herauszuhören. Yvonne hatte einen erstaunlichen Busen und trug ganz offensichtlich keinen Büstenhalter. Martin war fasziniert.
»Ich brauche ein paar Minuten«, hatte Yvonne ihm kurz vor den Injektionen erklärt und das Brett von Gertrude Tilwick ignoriert. Während Martin mit einer Spritze in der Hand wartete, hob sie vorsichtig ein Kaninchen aus dem Käfig, hielt es an ihr Gesicht und begann, ihm leise etwas vorzusingen, es zu streicheln, zärtliche Worte zu murmeln. Schließlich bettete sie den Kopf des Kaninchens zwischen ihre Brüste, hielt dann Martin die Hinterpfoten hin und sagte: »Jetzt.«
Binnen kurzer Zeit hatten sechs Kaninchen in jeden Zehenballen die ölige Lösung injiziert bekommen. Obwohl ihn die unmittelbare Nähe der Brüste verwirrte und er sich manchmal wünschte, anstelle der Kaninchen dort zu ruhen, arbeitete Martin präzise und sorgfältig weiter. Die Kaninchen wurden ganz offensichtlich von der liebevollen Behandlung eingelullt, mußten aber dennoch Schmerzen erdulden.
»Müssen es denn unbedingt die Zehenballen sein?« fragte Yvonne mitleidig.
Martin verzog das Gesicht. »Mir gefällt es auch nicht, aber es ist eine günstige Stelle für die Produktion von Antikörpern.«
Die Erklärung schien Yvonne zu befriedigen. Als sie fertig waren, stellte er fest: »Sie mögen Tiere, nicht wahr?«
Sie sah ihn erstaunt an. »Natürlich.«
»Das kann man nicht von jedem sagen.«
»Meinen Sie Tilly?« Yvonne runzelte die Stirn. »Die mag sich selbst nicht.«
»Miß Tilwick arbeitet nicht mehr bei uns.«
»Ich weiß. Mr. Bentley hat es mir gesagt. Er bat mich, Ihnen auszurichten, daß meine fachlichen Voraussetzungen stimmen und ich, wenn Sie wollen, Miß Tilwicks Job übernehmen könnte.«
»Sie gefallen mir«, sagte Martin und war über sich selbst erstaunt. »Sie gefallen mir sehr.«
Yvonne kicherte. »Ganz meinerseits, Herr Doktor.«
Obgleich jemand anders die Injektionen übernahm, sah Martin Yvonne auch weiterhin gelegentlich in den Labors. Einmal fragte er sie: »Wenn Sie Tiere so gern haben, warum haben Sie dann nicht Veterinärmedizin studiert?«
Sie zögerte, dann sagte sie ungewöhnlich kurz angebunden: »Das wollte ich auch.«
»Und warum haben Sie es nicht getan?«
»Ich bin durchs Examen gefallen.«
»Nur durch eins?«