Sie überlegte bestürzt, ob sie richtig gehört hatte und ob sie auch wirklich wach war. »Ich verstehe nicht, Seht. Sie sprechen doch nicht etwa von Montayne.«
»Leider ja.«
»Aber nach allem, was ich gelesen und gehört habe, ist Mon-tayne doch ein großer Erfolg.« Sie mußte an den positiven Bericht denken, den sie erst gestern über Andrew von Tano, dem Repräsentanten von Felding-Roth in Hawaii, erhalten hatte.
»Das haben wir auch alle gedacht, bis vor kurzem. Aber inzwischen hat sich alles geändert - ganz plötzlich. Und wir sitzen hier in einem schrecklichen Schlamassel.«
»Warten Sie einen Augenblick.«
Sie bedeckte die Sprechmuschel mit der Hand und sagte zu Andrew: »Es ist etwas passiert. Ich weiß nicht genau, was. Aber hör bitte auf dem anderen Apparat mit.«
Im Badezimmer war ein zweiter Telefonanschluß. Celia war-tete, bis Andrew den Hörer aufgenommen hatte, dann sagte sie: »Fahren Sie fort, Seth.«
»Aber das ist noch nicht alles, Celia, der zweite Grund meines Anrufs ist, daß der Aufsichtsrat Sie zurückhaben möchte.«
Celia wollte ihren Ohren nicht trauen. Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Es ist besser, Sie wiederholen das noch mal.«
»Gut. Also dann.«
Sie spürte, wie Seth seine Gedanken ordnete. »Sie erinnern sich an die Berichte über die Mißbildungen bei Neugeborenen in Australien, Frankreich und Spanien.«
»Selbstverständlich.«
»Inzwischen hat es eine ganze Reihe weiterer Fälle gegeben, auch in anderen Ländern. Und zwar so viele, daß es gar keinen Zweifel mehr geben kann - Montayne ist die Ursache dafür.«
»O mein Gott!« Celia fuhr sich mit der Hand ans Gesicht. Bitte laß es nicht wahr sein! Das ist doch nur ein schlechter Traum, es ist nicht wirklich. Ich will nicht recht behalten, nicht auf diese schreckliche Weise.
Dann sah sie Andrews grimmiges Gesicht durch die offene Badezimmertür und wußte, daß es kein Traum war, sondern Wirklichkeit.
Seth zählte jetzt Einzelheiten auf. ». . . fing vor zweieinhalb Monaten mit vereinzelten Meldungen an . . . ähnliche Fälle wie die früheren . . . dann wurden es immer mehr . . . seit neuestem eine ganze Flut . . . alle Mütter haben während der Schwangerschaft Montayne genommen ... bis jetzt fast dreihundert Neugeborene mit Mißbildungen . . . wahrscheinlich werden es noch mehr, vor allem in den USA, wo Montayne erst sieben Monate im Handel . . .«
Celia schloß die Augen, während die Schreckensgeschichte weiterging. Hunderte von Babys, die normal sein könnten und die nun niemals denken oder gehen oder ohne Hilfe aufrecht würden sitzen können, ihrganzesLeben langnicht, die sich niemals normal würden bewegen können. . . Und es würden noch mehr werden.
Ihr war zum Heulen zumute. Am liebsten hätte sie laut aufgeschrien vor Zorn und Entsetzen. Tränen und Zorn aber halfen nichts. Dafür war es zu spät.
Hätte sie diese grausame Tragödie verhindern können?
Ja!
Sie hätte nach ihrer Kündigung den Mund aufmachen, mit ihren Zweifeln an der Unbedenklichkeit von Montayne an die Öffentlichkeit gehen können, anstatt sich still zu verhalten. Aber hätte das irgendeinen Unterschied gemacht? Hätten die Leute auf sie gehört? Wahrscheinlich nicht, obgleich - irgend jemand hätte es vielleicht doch getan, und wenn nur ein einziges Baby gerettet worden wäre, dann hätte sich die Mühe schon gelohnt.
Als habe er über fünftausend Meilen hinweg ihre Gedanken gelesen, sagte Seth: »Wir alle haben uns hier natürlich Fragen gestellt, Celia. Wir haben schlaflose Nächte verbracht, und es gibt wohl keinen von uns, der nicht ein Stückchen Schuld mit ins Grab nehmen wird. Aber Sie brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben, Celia. Sie haben alles getan, was in Ihrer Macht stand. Es war nicht Ihre Schuld, daß Ihre Warnungen von uns allen nicht ernst genommen wurden.«
Es wäre so leicht und bequem gewesen, sich diese Ansicht anzueignen, dachte Celia. Aber sie wußte, daß sie bis ans Ende ihrer Tage Zweifel haben würde.
Ganz plötzlich kam ihr ein neuer, beunruhigender Gedanke. »Seth, haben Sie das alles schon bekanntgegeben? Haben Sie die Presse informiert? Haben Sie die Frauen vor Montayne gewarnt?«
»Also . . . nicht ganz. Natürlich hat es vereinzelte Meldungen gegeben, aber - überraschenderweise - nicht sehr viel.«
Daher hatten sie und Andrew noch nichts gehört.
Seth fuhr fort: »Anscheinend hat sich bis jetzt noch keiner von den Zeitungsleuten die ganze Geschichte zusammengereimt. Aber es dauert bestimmt nicht mehr lange, fürchte ich.«
»Sie fürchten. . .«
»Offenbar hatte man bis jetzt nichts unternommen, die Sache an die Öffentlichkeit zu bringen, und das bedeutete, daß Mon-tayne weiter verkauft und eingenommen wurde. Wieder mußte Celia an Andrews Bericht von gestern und an Tanos Worte denken: »Montayne verkauft sich wie verrückt.« Es lief ihr kalt den Rük-ken herunter, als sie fragte: »Und was wurde getan, um das Medikament zurückzurufen und alle Vorräte einzuziehen?«
Seth wählte seine Worte mit Bedacht. »Gironde-Chimie will Montayne noch in dieser Woche in Frankreich einziehen. Und die Engländer bereiten eine Erklärung vor, wie ich hörte. In Australien hat die Regierung den Verkauf bereits gestoppt.«
»Ich spreche von den Vereinigten Staaten!« schrie sie in den Hörer.
»Ich versichere Ihnen, Celia, daß wir alles getan haben, um dem Gesetz Genüge zu tun. Jede Information, die bei Felding-Roth eingegangen ist, wurde prompt nach Washington weitergegeben. Alles. Vince Lord hat sich persönlich darum gekümmert. Jetzt warten wir auf eine Entscheidung von der FDA.«
»Sie warten auf eine Entscheidung! Um Himmels willen, warum warten Sie denn noch? Welche andere Entscheidung erwarten Sie denn? Es gibt doch nur eine: Montayne einzuziehen!«
»Unsere Rechtsanwälte haben uns dringend geraten, in diesem Stadium zuerst den Beschluß der FDA abzuwarten.«
Celia hätte fast laut aufgeschrien. Aber sie nahm sich zusammen und erwiderte: »Die FDA ist langsam. Das kann doch Wochen dauern.«
»Ich nehme an, ja. Aber die Rechtsanwälte bestehen darauf zu warten. Wenn wir Montayne von uns aus zurückziehen, könnte der Eindruck entstehen, daß wir einen Fehler begangen haben und die Schuld zugeben. Wenn man an die finanziellen Folgen . . .«
»Wen interessieren denn finanzielle Dinge, wenn schwangere Frauen auch weiterhin Montayne nehmen. Wenn ungeborene Babys . . .«
Celia unterbrach sich, weil ihr klar wurde, daß es sinnlos war, sich zu streiten, daß sie das nicht weiterbrachte, und sie fragte sich, warum sie mit Feingold sprach und nicht mit Sam Hawthorne.
Entschlossen sagte sie: »Ich muß mit Sam sprechen.«
»Das ist leider nicht möglich, wenigstens nicht im Augenblick.« Es folgte eine verlegene Pause. »Sam ist . . . nun er ist nicht ganz er selbst. Er hat persönliche Probleme. Das ist auch ein Grund, warum wir möchten, daß Sie zurückkommen - wir brauchen Sie.«
»Sie weichen mir aus«, fuhr ihn Celia durchs Telefon an. »Was soll das heißen?«
Sie hörte einen langen, tiefen Seufzer.
»Eigentlich hätte ich es Ihnen lieber später gesagt, weil ich weiß, daß Sie darüber entsetzt sein werden.« Seths Stimme war leise und traurig. »Sie wissen doch . . . kurz bevor Sie weggingen, wurde Sam Großvater.«
»Juliets Baby.« Celia erinnerte sich an die Feier in Sams Büro, bei der sie den anderen mit ihren Zweifeln an Montayne die Stimmung verdorben hatte.
»Offenbar litt Juliet während der Schwangerschaft sehr stark an morgendlichem Unwohlsein. Sam gab ihr Montayne.«