Während dieses ganzen qualvollen Unterfangens unterstützte Yvonne Martin in jeder Hinsicht. Sie nahm seinen Haushalt völ-lig in die Hand, damit er seine ganze Aufmerksamkeit und Kraft dem Institut widmen konnte. Dann wieder tröstete sie ihn, schien instinktiv zu wissen, wann sie schweigend zuhören oder ihn mit ihrem fröhlichen Geplapper unterhalten sollte. Einmal, nach einem besonders anstrengenden Tag, forderte sie ihn beim Schlafengehen auf, sich auf den Bauch zu legen, und dann massierte sie ihn, bis er in tiefen Schlaf fiel, der bis zum Morgen anhielt.
Als Martin sie am nächsten Tag fragte, woher sie das könne, erwiderte sie: »Ich habe mal mit einer Freundin zusammengewohnt, die Masseuse war.«
»Es ist frappierend«, sagte er. »Du läßt nie eine Gelegenheit aus, etwas zu lernen. Genauso wie mit John Locke. Hast du in letzter Zeit wieder etwas von ihm gelesen.«
»Ja.« Yvonne zögerte, dann sagte sie: »Ich habe etwas gefunden, das irgendwie auf diese Verfechter der Tierrechte paßt. Über Begeisterung.«
»Ich weiß nicht, ob ich mich daran erinnere«, sagte Martin neugierig. »Könntest du mir den Absatz heraussuchen?« Lockes Es-Sflylag im Zimmer auf dem Tisch, aber Yvonne machte sich nicht die Mühe, es zu holen, sondern zitierte auswendig:
»Die intuitive Offenbarung ist ein viel leichterer Weg für die Menschen, sich Meinungen zu bilden und Richtungen einzuschlagen, als die mühsame und nicht immer erfolgreiche Arbeit strikter Beweisführung, daher nimmt es nicht wunder, daß manche dazu neigen, die Offenbarung vorzutäuschen und sich selbst einzureden, daß ihre Handlungen und Meinungen unter der besonderen Führung des Himmels stehen . . .«
Während sie offenbar aus dem Gedächtnis zitierte, sah Martin sie erstaunt an. Sie bemerkte es, unterbrach sich, wurde rot und fuhr dann fort:
»Wenn ihre Gedanken auf diese Weise vorbereitet sind, dann ist jede unbegründete Meinung, die sie sich bilden, eine Erleuchtung des Heiligen Geistes und folglich maßgebend; und wie merkwürdig eine Handlung, zu der sie sich getrieben fühlen, auch sein mag - letztlich handelt es sich um einen Ruf oder eine Anweisung des Himmels . . .«
Yvonne unterbrach sich erneut, kicherte und sagte dann verlegen: »Das reicht.« »Nein!« drängte Martin. »Mach weiter, wenn du kannst.« »Du machst dich über mich lustig«, sagte sie mißtrauisch. »Nicht im geringsten.« »Na, gut.« Sie fuhr fort:
». . . Begeisterung, die sich nicht auf den Verstand oder die heilige Offenbarung stützt, sondern aus einem erhitzten oder hochmütigen Verstand kommt . . . die Menschen gehorchen vorwiegend den Impulsen, die sie aus sich selbst erhalten . . . denn eine starke Idee, ein neues Prinzip, reißt leicht alle mit, wenn sie über den gesunden Menschenverstand hinausgeht und von den Einschränkungen der Beweisführung befreit ist . . .«
Yvonne sprach den Absatz zu Ende, schwieg dann, ihre blauen unschuldigen Augen waren auf Martin gerichtet, als wüßte sie nicht, wie er reagieren würde. Ungläubig sagte er: »Ich erinnere mich jetzt an das Zitat. Und ich glaube, du hast kein einziges Wort verändert. Wie hast du das gemacht?« »Na ja . . . ich habe eben ein gutes Gedächtnis.« »In allen Einzelheiten?« »Ich glaube ja.«
Martin erinnerte sich jetzt wieder daran, daß Yvonne, selbst wenn es sich um banalen Klatsch handelte, immer alle Einzelheiten genau kannte . . . Namen, Daten, Orte, Quellen, die Hintergrundstory. Er hatte es beiläufig schon längst bemerkt, hatte dem aber bis jetzt keine Bedeutung beigemessen.
»Wie oft mußt du denn etwas lesen, bis du es im Gedächtnis behältst?« fragte er. »Meistens einmal. Aber bei Locke mußte ich es zweimal le-sen.« Yvonne sah noch immer verlegen aus, als hätte Martin ein schlimmes Geheimnis aufgedeckt. »Ich möchte gern etwas ausprobieren«, sagte er. Er ging ins Nebenzimmer und holte ein Buch, von dem er genau wußte, daß Yvonne es noch nicht gelesen hatte. Es war Lok-kes The Conduct af the Understanding. Er schlug eine Seite auf, die er sich früher einmal angestrichen hatte, und sagte: »Lies das. Von da bis da.« »Darf ich es zweimal lesen?« »Natürlich.«
Sie beugte den Kopf, ihre langen blonden Haare fielen nach vorn, während sie sich konzentrierte und die Stirn runzelte, dann ließ sie das Buch sinken. Martin nahm es ihr ab und forderte sie auf: »Und jetzt sag mir, was du gelesen hast.« Er verfolgte die Worte im Buch, während sie sie wiederholte.
»Es gibt fundamentale Wahrheiten, die am Grund der Dinge liegen, auf denen eine große Anzahl anderer aufbaut und in denen sie ihre Beständigkeit finden. Das sind fruchtbare Wahrheiten, reich an Gehalt, mit dem sie den Verstand ausrüsten, und wie die Lichter am Himmel sind sie nicht nur selbst schön und unterhaltsam, sondern sie geben auch anderen Dingen Licht und Klarheit, die ohne dem nicht sichtbar oder faßbar wären. Das ist dasselbe wie die bewundernswerte Entdek-kung Herrn Newtons, daß alle Körper der Schwerkraft unterliegen . . .«
Sie zitierte noch einige weitere Absätze, und Martin stellte fest, daß jedes Wort genau dem Buchtext entsprach. Am Ende verkündete Yvonne: »Die Stelle ist schön.« »Genau wie du«, sagte er, »und wie das, was du besitzt. Weißt du, was das ist?« Wieder schon Yvonne verlegen, zögerte. »Sag es mir.« »Du hast ein fotografisches Gedächtnis. Das ist etwas ganz Besonderes und Einzigartiges. Das mußt du doch gewußt haben.« »Eigentlich ja. Aber ich wollte kein Wundertier sein, kein Ge-dächtnis-Monster.«
Yvonnes Stimme zitterte. Zum erstenmal, seit er sie kannte, spürte Martin, daß sie den Tränen nahe war.
»Um Himmels willen, wer hat dir denn das gesagt?«
»Eine Lehrerin von der Schule.«
Auf Martins vorsichtige Fragen hin kam die Geschichte heraus. Sie hatte eine Arbeit geschrieben, und wegen ihres fotografischen Gedächtnisses waren viele ihrer Antworten mit dem Text im Schulbuch identisch. Die Lehrerin beschuldigte Yvonne, abgeschrieben zu haben. Und man glaubte Yvonne nicht, als sie es abstritt. In ihrer Verzweiflung hatte sie, wie eben bei Martin, ein ähnliches Beispiel für ihre Fähigkeit gegeben, sich an Gelesenes genau zu erinnern.
Die Lehrerin war wütend, weil sie unrecht hatte, machte sich über Yvonnes Fähigkeit lustig, nannte sie ein Gedächtnis-Monster und bezeichnete ihre Art zu lernen als »wertlos«.
Martin unterbracht sie: »Es ist nicht wertlos, wenn du verstehst, was du gelernt hast.«
»Aber das tu ich doch. Ich verstehe es.«
»Das glaube ich dir«, versicherte er. »Du bist intelligent. Das weiß ich.«
Aber nach ihrem Zusammenstoß mit der Lehrerin hatte sich Yvonne nicht nur bemüht, ihr Talent zu verbergen, sondern auch, es völlig abzulegen. Während ihres Studiums hatte sie versucht, sich nicht an Sätze und Absätze zu erinnern, und zum Teil war es ihr auch gelungen. Aber wenn sie das tat, verstand sie alles nicht mehr richtig und schnitt bei den Prüfungen schlecht ab, und bei einer fiel sie sogar durch, so daß sie nicht auf die tierärztliche Hochschule kam.
»Lehrer können eine Menge Gutes tun«, sagte Martin. »Aber törichte Lehrer können auch viel Schaden anrichten.«
Yvonne sah traurig aus und schwieg. In den darauffolgenden Minuten dachte Martin angestrengt nach.
»Du hast schon soviel für mich getan«, sagte er schließlich.
»Vielleicht kann ich zur Abwechslung einmal etwas für dich tun. Möchtest du noch immer gern Tierärztin werden?«
Die Frage überraschte sie. »Ist das denn möglich?«
»Vieles ist möglich. Wichtig ist nur: Willst du es wirklich?«
»Natürlich. Das habe ich immer gewollt.«
»Dann werde ich mal sehen, was sich machen läßt.«
Zwei Tage später, nach dem Abendessen, erklärte Martin: »Ich muß dir etwas sagen.«