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Er wünschte jetzt, er wäre nicht so schnell bereit gewesen, sie ins St. Anne's Mütterheim schicken zu lassen, und hatte gleichzeitig ein schlechtes Gewissen, daß er das wünschte; er wußte, daß das St. Anne's für Mary das Beste war, ihr Verbleib zu Hause wäre nur für Jonas Wade von Vorteil gewesen.

Es klopfte kurz, dann öffnete seine Sprechstundenhilfe die Tür. »Dr. Wade? Würden Sie noch eine Patientin empfangen?«

Er zog die Brauen hoch und warf einen Blick auf seine Uhr.

»Jetzt noch? Es ist vier Uhr vorbei. Ich wollte gerade gehen. Hat die Frau einen Termin?«

Die Sprechstundenhilfe trat ins Zimmer und schloß die Tür hinter sich. »Es ist die kleine McFarland. Sie möchte unbedingt mit Ihnen sprechen.«

»McFarland? Mary Ann McFarland?« Jonas stand auf. »Schicken Sie sie herein.«

»Soll ich noch bleiben?«

»Nein, danke. Aber rufen Sie bitte meine Frau an, ehe Sie gehen, und sagen Sie ihr, daß ich mich etwas verspäten werde.«

Nachdem die Sprechstundenhilfe hinausgegangen war, setzte sich Jonas wieder, und als einen Moment später sich die Tür öffnete und Mary ins Zimmer trat, sah er ihr lächelnd entgegen.

»Hallo, Mary. Komm herein. Setz dich.«

Sie machte leise die Tür hinter sich zu, kam durch das Zimmer, stellte ihren kleinen Koffer ab und setzte sich in einen der Ledersessel vor seinem Schreibtisch.

Sie hatte sich verändert, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie wirkte voller, rundlicher, war nicht mehr das gertenschlanke, etwas kantige junge Mädchen, das er bei ihrem ersten Besuch kennengelernt hatte. Das weiche braune Haar, das in der Mitte gescheitelt war, fiel ihr glänzend über die Schultern, die eine neue sanfte Rundung hatten. Als sie sich setzte, sah er flüchtig die leichte Schwellung ihres Bauches. Er fand sie fraulicher geworden, weicher.

»Das ist wirklich ein Zufall, Mary«, sagte er. »Ich habe gerade an dich gedacht. Wie geht es dir?«

»Dr. Wade, warum bin ich schwanger?«

Er antwortete nicht gleich. Sein Blick glitt zu ihren Handgelenken. Die Narben waren jetzt kaum noch zu sehen. Dann betrachtete er ihr Gesicht. Die Furcht und die Verwirrung, die er zuletzt in den großen blauen Augen gesehen hatte, waren nicht mehr da. Statt dessen sah sie ihn mit einer ruhigen Selbstsicherheit an, die ihn erstaunte. Die Wandlung, die mit dem Mädchen vorgegangen war, war bemerkenswert.

»Augenblick, Mary. Das letzte Mal warst du vor sieben oder acht Wochen bei mir. Damals hast du bestritten, schwanger zu sein.«

Sie nickte. »Das kann ich jetzt nicht mehr. Ich weiß, daß ich wirklich schwanger bin. Und ich möchte wissen, wieso.«

Jonas lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er war erregt, aber er stellte seine Frage ganz sachlich. »Du glaubst also immer noch, daß du unberührt bist?«

»Ich weiß es.«

»Und was ist mit St. Anne's?«

»Da war ich die letzten sechs Wochen. Heute bin ich gegangen.«

»Ach?« Er schaute zu ihrem Köfferchen hinunter.

»Meine Freundin Germaine hat mich ein paarmal besucht und mir erzählt, welche Busse sie genommen hat. Ich hab's einfach umgekehrt gemacht.«

»Du bist mit dem Bus gekommen? Die weite Fahrt?«

»Ich mußte ja.«

»Aber - wo sind denn deine Eltern?«

Mary zuckte die Achseln. »Zu Hause, nehme ich an.«

»Wissen sie nicht, daß du von St. Anne's weg bist?«

»Nein.«

Jonas beugte sich abrupt nach vorn. »Du bist einfach aus dem Mütterheim weggegangen und direkt hierhergekommen? Ohne jemandem etwas zu sagen?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil ich nicht mehr dort bleiben wollte.«

»Ich meine, warum bist du direkt hierhergekommen? Warum bist du nicht nach Hause gefahren?«

»Weil ich wissen möchte, wieso ich schwanger bin. Sie sind der einzige, der mir helfen kann.«

»Mary -« Jonas setzte sich wieder tiefer in seinen Sessel und stieß dabei mit dem Fuß an seine Aktentasche. »Mary, du mußt nach Hause. Ohne Erlaubnis deiner Eltern kann ich nichts tun.«

»Das weiß ich. Aber ich mußte einfach zuerst zu Ihnen kommen. Ich meine, ehe ich meinen Eltern sage, was ich für mich beschlossen habe. Sie sind der einzige Mensch, an den ich mich wenden kann und dem ich vertraue. Ich kann meinen Eltern nicht allein gegenübertreten, Dr. Wade. Jetzt noch nicht.«

Sein Blick ruhte auf ihrem Gesicht. Er sah das Kindliche hinter der dünnen Fassade erwachsener Selbstsicherheit. Doch keine so tiefe Wandlung, dachte er. Bloß ein Kind, das sich die Maske der Erwachsenen aufgesetzt hat.

»Du brauchtest nicht aus dem Mütterheim wegzugehen, um mit mir sprechen zu können. Du hättest mich anrufen können. Ich wäre zu dir gekommen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Doch, ich mußte weg. Ich will die Schwangerschaft zu Hause erleben. Ich möchte bei meinen Eltern und bei meiner Schwester sein. Sie sollen dazugehören.«

»Hast du dir mal überlegt, was sie davon halten werden?«

»Das ist mir gleich, Dr. Wade. Sie müssen mich einfach akzeptieren. Sie haben mich weggeschickt, weil sie meinen

Anblick nicht aushalten konnten. Aber ich laß mich nicht wegpacken wie Mr. Rochesters verrückte Ehefrau. Ich habe nichts getan. Ich bin keine Verbrecherin. Dr. Wade -« Mary beugte sich zum Schreibtisch vor und sah ihn beschwörend an

- »können sie mir sagen, wieso ich schwanger bin?«

Er war hin- und hergerissen. Einerseits drängte es ihn, ihr alles zu sagen, andererseits hielt er es für geraten, sein Geheimnis noch für sich zu behalten.

»Es wird dich vielleicht überraschen, Mary, aber ich habe in den letzten zwei Monaten sehr viel an dich gedacht und mir die gleiche Frage gestellt wie du: Wie bist du schwanger geworden.«

»Ach, Dr. Wade, ich wußte ja von Anfang an, daß Sie mir glauben. Darum bin ich heute zu Ihnen gekommen.«

Jonas konnte den hoffnungsvollen Blick nicht aushalten. Abrupt stand er auf und ging zum großen Fenster. Das Tal zu seinen Füßen war in gelben Dunst getaucht. Er mußte sich einen Moment Zeit nehmen, um sich zu überlegen, wie er die Situation anpacken sollte; ob er ihr sagen sollte, was er wußte, und wenn ja, wie er es ihr am besten sagen konnte.

Mary hatte sich durch die Schwangerschaft verändert, gewiß, sie war reifer geworden. Doch was er ihr zu sagen hatte, würde auch für eine erwachsene Frau schwer zu begreifen und zu verarbeiten sein. Konnte er ihr diese Belastung zumuten? Wie, dachte er, soll ich ihr sagen, daß in ihrem Bauch vielleicht kein Kind heranwächst, sondern eine monströse Masse menschlichen Gewebes?

Um sich noch etwas Zeit zu schaffen, fragte er: »Wie war es denn eigentlich in St. Anne's?«

Er hörte sie seufzen und glaubte eine Spur Ungeduld wahrzunehmen.

»Es war wie im College. In einem Wohnheim. Es ist wirklich ganz schön da. Es hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit einem Krankenhaus. Ich hatte ein Zimmer zusammen mit einem sehr netten Mädchen, und die Nonnen waren immer freundlich. Aber ich gehöre da nicht hin. Die anderen Mädchen waren alle schwanger, weil sie was getan hatten, und sie wußten es auch. Sie haben sogar darüber geredet. Nur bei mir war es anders. Ich war ausgeschlossen. Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken, und am Schluß konnte ich es einfach nicht mehr aushalten, nur rumzusitzen und abzuwarten. Ich muß wissen, wieso ich schwanger bin.«