»Bernie, ich möchte eine Fruchtwasseruntersuchung machen.«
»Was? Aber Jonas, das ist doch eine äußerst heikle Geschichte. Die Untersuchung befindet sich noch in der experimentellen Phase und ist äußerst riskant.«
»Ihr macht sie doch bei Müttern mit negativem Rhesusfaktor, oder nicht?«
»Zunächst einmal, Jonas: Ich mache gar nichts. Die Fruchtwasseruntersuchung wird in Krankenhäusern von Spezialisten durchgeführt, und die Blutuntersuchungen werden im Labor gemacht. Kann sein, daß einige Leute in meiner Abteilung mit Fruchtwasser experimentieren und genetische Untersuchungen machen, aber ich habe so was nie gesehen. Im übrigen wird so eine Untersuchung nur gemacht, wenn es auf Leben und Tod geht. Nicht um die Neugier zu befriedigen.«
»Aber du könntest die genetischen Untersuchungen machen, Bernie, wenn du eine Probe des Fruchtwassers hättest?«
»Du meinst, ob ich mir die Chromosomen anschauen und feststellen könnte, ob das Kind deformiert ist?«
»Ja.«
»Nicht mit Sicherheit, Jonas. Mongolismus und gewisse andere Krankheiten oder Abweichungen könnte ich feststellen, aber so ein Test zeigt längst nicht alles. Bedenk doch die Risiken, Jonas. Verletzung des Fötus, Risiko einer Frühgeburt, Infektion. Und wozu? Bleib bei deinen Röntgenaufnahmen, Jonas.«
»So lange kann ich nicht warten, Bernie.«
»Jonas, du brauchst keine Chromosomenuntersuchung, um die Eltern des Mädchens davon zu überzeugen, daß ihre Tochter die Wahrheit sagt. Du hast hier mehr als genug Beweise. Und was die Möglichkeit angeht, daß das Kind deformiert ist, so wiegen die Unzuverlässigkeit der Fruchtwasseruntersuchung und die Gefahren, die mit ihr verbunden sind, weit schwerer als alle fragwürdigen Beweise, die sie dir vielleicht bringt.«
»Bernie«, sagte Jonas eindringlich, »ich möchte, daß die Untersuchung gemacht wird.«
Bernie stand langsam aus seinem Sessel auf und schüttelte den Kopf.
»Weißt du, was ich glaube, Jonas? Du willst die Fruchtwasseruntersuchung nicht haben, weil du um das Wohl dieses Mädchens besorgt bist. Du willst sie für deine eigenen Zwecke haben.«
Mit einer hastigen Bewegung wandte sich Jonas ab und griff nach seinem Glas. Hinter sich hörte er Bernie sagen: »Du bist ja völlig besessen von dem Fall. Wenn du das Mädchen schützen und ihre Eltern und Freunde davon überzeugen willst, daß sie wirklich unberührt ist, dann hast du hier Beweise genug. Jetzt auch noch eine Fruchtwasseruntersuchung zu verlangen, wo die Röntgenaufnahmen dir alles zeigen werden, was du wissen willst, ist der pure Wahnsinn. So kann nur ein Mensch handeln, der andere Motive hat.« Bernie trat hinter den Freund und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Worum geht's wirklich, Jonas?«
Jonas drehte sich langsam um. Er holte einmal tief Atem und sagte entschlossen: »Ich will veröffentlichen, Bernie.«
Bernie starrte ihn einen Moment lang wortlos an, dann erwiderte er: »Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Doch. Ich wäre ein Narr, wenn ich es nicht täte. Die Wissenschaft macht Riesenschritte, die Forschung stößt in Gebiete vor, die bis vor kurzem noch absolut tabu waren. Früher oder später wird man sich auch an die Parthenogenese heranwagen. Warum dann nicht ich?«
Bernie sah den Freund mit scharfem Blick an. Sein Gesicht zeigte eine ungewöhnliche Intensität, die man beinahe als Verbissenheit hätte bezeichnen können. »Du behandelst das
Mädchen als medizinisches Kuriosum, Jonas. Aber sie ist deine Patientin. Du hast ihr gegenüber eine Verantwortung.«
»Ich bin mir der Verantwortung völlig bewußt. Wenn ich veröffentliche, ebne ich zukünftigen parthenogenetischen Müttern den Weg, von der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Dieses Mädchen geht durch eine wahre Hölle, Bernie; sie hat sogar einen Selbstmordversuch gemacht, weil niemand ihr glaubt. Wenn ich meine Befunde veröffentliche und beweise, so daß die Parthenogenese als natürliches Phänomen akzeptiert wird, erspare ich damit zukünftigen Mary Ann McFarlands den ganzen Kummer und die Verzweiflung, die dieses Mädchen jetzt durchmachen muß.«
Bernies dunkle Augen zeigten Skepsis. »Ist das wirklich dein Motiv zu veröffentlichen, Jonas?« Er sah den Freund forschend an. »Oder ist es nur ein Vorwand, eine wohlklingende Ausrede?«
»Was zum Teufel soll das heißen?«
Noch einen Moment sah Bernie ihn an, schien mit sich im Kampf, dann zuckte er die Achseln und sah auf seine Uhr. »Ich muß gehen, Jonas. Esther wird sich schon wundern, wo ich bleibe. Und dann gibt sie mir die Schuld an den verkochten Kartoffeln.«
»Bernie, ich brauche deinen Rat.«
»Nein, den brauchst du nicht, Jonas. Für dich ist schon alles klar. Du hattest dich schon entschieden, ehe ich heute abend hierherkam. Du kennst mich gut genug, um zu wissen, wie ich über diese Sache denke.«
»Und wie denkst du darüber? Sag es mir!«
Bernie, der schon auf dem Weg zur Tür war, drehte sich um. »Du machst sie und ihr Kind zur öffentlichen Sensation, wenn du veröffentlichst. Auch wenn du deinen Bericht nur an eine Fachzeitschrift gibst, wie sich das für einen ernstzunehmenden Wissenschaftler mit ethischen Grundsätzen gehört, wird die Sache durchsickern. Dann berichtet erst die eine darüber, dann die andere Zeitschrift, und eh du dich's versiehst, sind sämtliche Boulevardblätter und die Regenbogenpresse voll mit Fotos von Mutter und Kind.« Bernie legte die Hand auf den Türknauf. »Willst du das wirklich?«
»Das ließe sich verhindern .«
Bernie hob abwehrend die Hand. »Jonas, überleg es dir genau, ehe du diesen Schritt tust. Prüfe deine Motive.«
Jonas brachte den Freund bis vor das Haus und blieb auf der Veranda stehen, während Bernie in Hawaiihemd und Bermudashorts durch den schwülen Abend davonging. Dann kehrte er aufgewühlt von Bernies Worten in sein Arbeitszimmer zurück.
Prüfe deine Motive. Du hast einen Vorwand gesucht, eine wohlklingende Ausrede ... Aber es war kein Vor wand, der ihm dazu dienen sollte, sich ein reines Gewissen zu erhalten; es war die Wahrheit. Er konnte in aller Aufrichtigkeit sagen, daß er nur veröffentlichen wollte, um zukünftigen partheno-genetischen Müttern das zu ersparen, was Mary jetzt durchmachen mußte.
Wirklich? Gott verdamm dich, Bernie Schwartz, daß du mich besser kennst als ich mich selbst ...
Es war, als hätte Bernie mit seinen Worten einen Schleier weggezogen, hinter dem Jonas bis jetzt seine Angst vor sich verborgen gehalten hatte. Seine Angst vor der Zukunft. Es ging hier nicht um einen Durchbruch der Wissenschaft; es ging um den Durchbruch von Jonas Wade. Dies war für ihn vielleicht die letzte Chance, sich einen Platz in der langen Reihe illustrer Ärzte zu erobern, die die medizinische Wissenschaft zu dem gemacht hatten, was sie heute war. Es boten sich nicht viele Gelegenheiten, sich zu diesen Höhen emporzuschwingen; man mußte die Chance ergreifen, wenn sie sich bot.
Er hob den Kopf und blickte auf die neue Urkunde, die über seinem Schreibtisch hing. Präsident der Galen-Gesellschaft. Das war keine Leistung, um derentwillen die Nachwelt sich seiner erinnern würde. Sein Blick ging weiter: das Diplom der medizinischen Fakultät der Universität von Kalifornien in Berkeley, Abschlußexamen summa cum laude; Auszeichnungen für hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der Allgemeinmedizin; ein Schreiben von der Hand des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Die Daten, die die Urkunden trugen, lagen Jahre zurück. Er war der Beste seines Jahrgangs gewesen, der Weg zu Ruhm und Erfolg schien vorgezeichnet, alle Türen hatten ihm offengestanden. Er hatte Angebote von den besten Universitäten und Krankenhäusern des Landes erhalten, und der brillante junge Arzt, der allenthalben Ehrungen und Auszeichnungen einheimste, hatte geglaubt, er könne die medizinische Welt aus den Angeln heben.
Dann hatte er Penny geheiratet. Zwei Kinder im Abstand von eineinhalb Jahren, eine neue Praxis in Tarzana und eine Menge Schulden. Das tägliche banale Einerlei der Praxis -Mandelentzündungen, Krampfadern, Hämorrhoiden. Statt nach Ruhm und Erfolg zu greifen, griff er nach Stethoskop und Reflexhammer. Brillanz und hochfliegende Träume gingen unter in bequemer Routine.