Es stimmte nicht. Sie senkte den Kopf in tiefer Konzentration. Ehre dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist. Amen.
Sie betete ein Gegrüßet seist du, Maria nach dem anderen. Die Worte klangen sinn- und bedeutungslos in ihrem Hirn, eine endlose Aneinanderreihung sich wiederholender Vokale und Konsonanten. Sie verlor das geistige Bild des Rosenkranzes. Ein Gegrüßet seist du, Maria verschmolz mit dem nächsten.
Verzweifelt über ihre Unfähigkeit, den rechten Weg zu finden, um mit Gott in Zwiesprache treten zu können, öffnete Mary die Augen und hob den Kopf. Suchend blickte sie zum Altar. Die Augen fest auf den gekreuzigten Jesus gerichtet, begann sie von neuem zu beten.
Aber es ging nicht. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Alles war falsch, nichts stimmte. Sie warf einen Blick auf Pater Crispin, der tief im Gebet versunken war. Von neuem sah sie zum gekreuzigten Christus auf und versuchte es noch einmal.
Herr erbarme dich meiner! Christus, erbarme dich meiner! Ihr Blick schweifte zur Statue der Jungfrau Maria, die links von der Kanzel stand.
Gott allmächtiger, einziger Gott, erbarme dich meiner!
Sie schluckte krampfhaft.
Jesus, erbarme dich meiner!
Heilige Maria, Mutter Gottes, erbarme dich meiner!
Ihr Blick glitt von der Heiligen Jungfrau ab und blieb an dem Bild vor der ersten Station des Kreuzwegs hängen. Eine seltsame, ängstliche Unruhe bemächtigte sich ihrer. Ohne etwas wahrzunehmen, sah sie mit starrem Auge ins Halbdunkel und rang mit den Worten in ihrem Kopf.
O Gott, schrie sie in Gedanken. Sag mir doch, was mit mir geschieht. Sag mir, warum. Sag mir, wieso. Nur du allein kannst mir helfen. Dr. Wade weiß keine Antwort. Pater Crispin weiß keine Antwort. Nur du, Gott, du allein weißt, warum dies geschehen ist. Hilf mir, Gott ...
Mary schloß zitternd die Augen und bemühte sich, ihr Herz zu öffnen. Sie holte tief Atem, hielt lange die Luft an und stieß sie dann langsam aus.
Sie öffnete die Augen. Und plötzlich wurde sie gewahr, worauf ihr Blick gerichtet war.
Auf das Bild des heiligen Sebastian.
Sie vergaß ihre verzweifelten Gebete. Neugierig musterte sie das Gemälde: die Pfeile, die den kraftvollen Körper durchbohrten; die blutenden Wunden; die straffen Sehnen der nackten Schenkel; den geschundenen Leib. Am Ende blieb ihr Blick in Faszination an dem gequälten schönen Gesicht hängen, das trotz aller Qual einen Ausdruck der Verzückung trug.
Sie erinnerte sich.
Und im selben Moment kam ein wohltuender, tröstlicher Friede über sie.
13
Jonas Wade hatte Mühe, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Es war fast Mittag; jeden Moment würde Mary Ann McFarland kommen.
»Okay, Timmy, das wär's!« Er gab dem kleinen Jungen einen leichten Klaps auf die Schulter. »Du warst wirklich tapfer. Jetzt sind alle Fäden raus.«
Der Kleine strahlte, warf einen Blick auf die rote Narbe an seinem Knie und sagte: »Danke.«
Während die Sprechstundenhilfe dem Jungen vom Untersuchungstisch half, ging Jonas in sein Sprechzimmer und schloß die Tür hinter sich. Unruhig und beklommen setzte er sich an seinen Schreibtisch und starrte auf das Krankenblatt, das vor ihm lag. Er hatte beschlossen, Mary heute alles zu sagen.
Die Sprechanlage summte.
Jonas Wade saß über Timmys Krankenblatt gebeugt und schrieb, als Mary leise eintrat, die Tür hinter sich schloß und in einem der Stühle vor dem Schreibtisch Platz nahm. Er blickte kurz auf, um sie zu begrüßen. Die Hände im Schoß gefaltet, saß sie da und wartete geduldig.
Er schrieb weiter; er brauchte Zeit, um sich innerlich auf das Gespräch mit dem Mädchen vorzubereiten. Aber schließlich gab es nichts mehr zu schreiben, und er schlug den Hefter zu und steckte seinen Füller in die Brusttasche seines Kittels.
Mit einem gewinnenden Lächeln sah er Mary an. »Na, das ist aber eine nette Überraschung! Ich habe dich ja vier ewiglange Tage nicht gesehen.«
Sie lachte, und ihre blauen Augen blitzten. »Vielen Dank, daß Sie mir den Termin gegeben haben, Dr. Wade.«
»Wie bist du hergekommen? Ist deine Mutter mitgekommen?«
»Nein, sie hat mir ihr Auto geliehen.«
»Du hast den Führerschein?«
»Ja, seit einem halben Jahr. Meine Mutter gibt mir ihren Wagen ab und zu, wenn ich zum Einkaufen fahre oder in die Bibliothek und so. Und als ich heute sagte, ich müßte unbedingt zu Ihnen, hat sie sich erweichen lassen.«
»Und warum mußtest du denn nun unbedingt zu mir?«
Sie zögerte einen Moment. Ihr Gesicht verriet ihre Erregung. Dann sagte sie schnell und atemlos: »Dr. Wade, ich weiß jetzt, warum ich schwanger bin.«
»Was?« fragte er verblüfft.
»Ich weiß jetzt, warum, und ich weiß auch, wie es gesche-hen ist.«
Er rutschte unbehaglich in seinem Sessel hin und her. »Das klingt interessant, Mary. Willst du es mir erzählen?«
Sie schilderte kurz ihr Zusammentreffen mit Pater Crispin vor zwei Tagen und den nachfolgenden Besuch in der Kirche zum gemeinsamen Gebet. »Aber ich konnte nicht beten, Dr. Wade«, erklärte sie mit fliegenden Händen. »Ich hab in meinem Leben nie Mühe gehabt zu beten, aber da konnte ich einfach nicht. Ich habe die Worte runtergeleiert, aber sie hatten überhaupt keine Bedeutung. Sie waren völlig sinnlos, wie eine fremde Sprache.«
Sie rückte an die Stuhlkante. »Ich bekam Angst. Wirklich. Ich meine, das mußte doch was zu bedeuten haben. Wenn man plötzlich nicht mehr beten kann. Ich geriet völlig in Panik. Ich fing an zu zittern und hatte schreckliche Angst, Pater Crispin könnte was merken. Aber dann habe ich einfach aufgehört zu beten, Dr. Wade, und habe angefangen, mit Gott zu sprechen. Das hatte ich noch nie getan. Ich hab ihm einfach das Herz ausgeschüttet, und da ist es passiert.«
Jonas Wade beobachtete sie fasziniert. So lebhaft hatte er sie noch nie gesehen. »Was ist denn geschehen, Mary?«
»Ich erinnerte mich plötzlich an den Traum.«
Er horchte auf. »Du hattest einen Traum?«
»Ja, in der Nacht vor dem Ostersonntag. Der Traum war sehr merkwürdig, Dr. Wade, richtig bizarr. Ich hatte noch nie so was geträumt. Es war -« sie zuckte etwas verlegen die Achseln - »es war ein sexueller Traum. Vom heiligen Sebastian.« Mary sprach jetzt langsamer. »Im Traum kam der heilige Sebastian zu mir und liebte mich. Wie Mann und Frau sich lieben. Alles war so real, als wäre es wirklich geschehen.«
»Und an diesen Traum hast du dich in der Kirche erinnert?«
»Ja, während ich Gott bat, mir zu helfen. Ganz plötzlich war der Traum wieder da, als hätte Gott mir die Erinnerung gesandt.«
»Du glaubst, daß Gott deine Gebete erhörte und darum die Erinnerung an diesen Traum weckte?«
»Ja, aber es geht nicht nur um den Traum, Dr. Wade. Einen ganz normalen Traum, auch wenn er von Sex handelt, würde ich nicht für so bedeutungsvoll halten. Aber dieser Traum hatte was Besonderes. Es war etwas Körperliches, eine ganz starke Empfindung, wie ich sie noch nie vorher erlebt hatte. Und das war es, woran ich mich in der Kirche erinnerte, Dr. Wade.«
Er runzelte die Stirn. »Etwas Körperliches?«
»Ja. Es war ein ganz tolles Gefühl, und es war so stark, daß ich davon aufgewacht bin. Und gleich als ich wach war, wußte ich, daß irgendwas mit meinem Körper geschehen war. Ich -« Sie senkte die Stimme. »Ich hab mich angefaßt, und dabei hab ich gemerkt, daß was mit mir passiert war - unten.«
Er starrte sie einen Moment lang stumm an, dann sagte er: »Mary, weißt du nicht, was das war?«
»Doch. Es kam davon, daß der heilige Sebastian mich heimgesucht hatte.«
Jonas war völlig verdattert. »Davon, daß der heilige Sebastian dich heimgesucht hatte?«
»Aber ja. Ich hatte den Traum genau zur richtigen Zeit. In der zweiten Aprilwoche. Der Engel Gabriel hat doch auch die Mutter Maria heimgesucht. Da kann der heilige Sebastian bei mir das gleiche getan haben.«