Bischof Maloney legte die schmalen Hände giebelförmig aneinander und schob sie unter sein Kinn. »Gut, sprechen wir darüber. Warum haben Sie dem Mädchen die Kommunion gegeben, wenn Sie der Meinung waren, sie verdiente es nicht?«
»Weil mir die Situation so peinlich war«, antwortete Pater Crispin kleinlaut.
»Wie meinen Sie das?«
Lionel mied den Blick seines alten Freundes und starrte in die tanzenden Flammen. »Ich hatte das Gefühl, daß die ganze Gemeinde mich beobachtete.«
»Und war es so?«
»Ich weiß es nicht, aber ich hatte das Gefühl. Alle starrten mich an, sogar meine Ministranten. Ich fühlte mich völlig hilflos«, Lionel Crispin befeuchtete die spröden Lippen, »als ich mich umdrehte und sie immer noch dort knien sah. Und ich sah ihr an, daß sie nicht wanken und nicht weichen würde, auch wenn die anderen längst wieder an ihre Plätze gegangen waren und ich mit dem Postcommunio beginnen würde. Ich wußte, sie würde hartnäckig knien bleiben. Ich habe ihr die Hostie gegeben -« er drehte den Kopf und sah den Bischof an - »ich habe sie ihr gegeben, um sie loszuwerden, Exzellenz.«
Der Bischof nahm Pater Crispins Worte mit unergründlicher Miene auf. Er hatte das Gefühl, daß der Priester ihm das, weswegen er an diesem Abend wirklich zu ihm gekommen war, noch nicht gesagt hatte.
»Ihrer Meinung nach also befand sich das Mädchen im Zustand der Todsünde«, sagte er, »und dennoch haben Sie ihr die Hostie gegeben. Haben Sie das gebeichtet?«
»Ja, Pater Ignatius.«
»Dann ist Ihre Sünde vergeben. Wenden wir uns also nun dem Problem mit diesem Mädchen zu.«
Pater Crispin senkte den Kopf und blickte auf seine Hände. Er war immer noch nicht im Frieden mit sich selbst. Er war zu Pater Ignatius gegangen, weil der Mann halbtaub war und milde bei der Auferlegung von Bußen. Lionel Crispin war nicht besser als seine Gemeindemitglieder.
»Kommen wir also zu dem Mädchen, Lionel. Mir scheint, sie glaubt wahrhaftig an ihre eigene Unschuld. Wenn das so ist, hat sie keine Sünde begangen. Ich meine, wenn sie sich der sündigen Handlung nicht erinnern kann oder wenn sonst ein psychologischer Grund gegeben ist.«
»Ich glaube nicht, daß ein psychologischer Grund vorliegt, Exzellenz. Und ihr Arzt ist der gleichen Meinung wie ich.«
»Ach ja, der Arzt. Wie, sagten Sie gleich, heißt der Mann?«
»Jonas Wade.«
»Dieser Dr. Wade behauptet also, daß Mary McFarland seelisch gesund und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte ist. Dann scheint sie doch zu lügen. Aber der Arzt spricht von Parthenogenese. Was Sie mir darüber berichtet haben, ist sehr interessant. Ich würde darüber von Dr. Wade gern Genaueres hören.«
Pater Crispin hob mit einem Ruck den Kopf. »Sie können das doch nicht billigen, Exzellenz.«
»Das weiß ich noch nicht, Lionel. Mir sind noch nicht alle
Fakten bekannt, aber nach alledem, was Sie mir darüber berichtet haben -«
»Verzeihen Sie, Exzellenz -« Pater Crispin machte Anstalten aufzustehen -, »aber diese wahnwitzige Theorie über die Parthenogenese untergräbt doch alles, woran wir glauben.«
»Lionel, bitte bleiben Sie sitzen, und erklären Sie mir, inwiefern sie alles untergräbt, woran wir glauben. Ich finde ganz im Gegenteil, daß sie mit unserem Glauben durchaus in Einklang ist. Gründet denn unsere Religion nicht auf einer ebensolchen Lehre? Wurde nicht Eva auf ähnliche Weise erschaffen, ohne daß Geschlechtsverkehr stattfand, und die Heilige Jungfrau selbst ebenso?«
»Exzellenz, ich traue meinen Ohren nicht! Was heißt denn das, wenn ein unberührtes Mädchen infolge einer schlichten körperlicher Erschütterung schwanger werden kann? Was sagt das über die Mutter Gottes aus?«
»Ach, Lionel, sind Sie in Ihrem Glauben so leicht zu erschüttern? Kann es sich hier nicht um zwei getrennte Phänomene handeln? Vor zweitausend Jahren sprach Gott zu einer Jungfrau namens Maria und sagte, sie sei gesegnet. Als Katholiken müssen wir das glauben. Heute nun, im Jahr neunzehnhundertdreiundsechzig, erhält ein unberührtes junges Mädchen namens Mary einen Stromschlag und ist plötzlich schwanger. Ich frage Sie, Lionel, was hat das eine mit dem anderen zu tun? Maria wurde von Gott auserwählt; bei Mary McFarland handelt es sich um einen rein biologischen Vorgang. Wie kann diese Tatsache Ihren Glauben bedrohen? Sind Sie denn so schwach im Glauben?«
Pater Crispin zitterte. »Ganz im Gegenteil, Exzellenz. Mein Glaube ist stärker denn je. Ich bin unerschütterlich.«
Bischof Maloney kniff die Augen zusammen. Er sah deut-lich die Risse in der Fassade der Stärke, und er war beunruhigt. »Wenn ihr Glaube so stark und unerschütterlich ist, Lionel«, sagte er langsam, »wieso macht Ihnen dann dieser Fall angst? Der Mann in der eisernen Rüstung hat von Holzpfeilen nichts zu fürchten.«
Lionel Crispin schwieg. Er konnte den Aufruhr seines Herzens nicht in Worte fassen; die schleichende Angst, daß Wade recht hatte. Wenn das Mädchen nun wirklich unberührt war? Und wenn sie einen Sohn zur Welt brachte .?
»Lionel, was bedrückt Sie noch?«
Pater Crispin rang um Ruhe. Während draußen der Oktoberwind ums Haus pfiff, starrte er in die Flammen des Kamins und bemühte sich, seine Ruhe zu finden. »Dr. Wade sagte, das Kind könne eventuell geschädigt sein. Deformiert.«
Der Bischof runzelte die Stirn. »Wie deformiert?«
Pater Crispin konnte dem Freund nicht in die Augen sehen. »Schlimm. Eine Mißgeburt vielleicht.«
»Ich verstehe .«
Das Heulen des Windes in den leeren Straßen schien stärker zu werden. Der Sommer war vorbei. Lionel Crispin griff nach dem Glas Sherry, das auf dem Tisch neben seinem Sessel stand. Der Bischof hatte es ihm bei seiner Ankunft vor mehr als einer Stunde eingeschenkt; erst jetzt hob Lionel Crispin es an seine Lippen und trank einen Schluck. Während er dem Wind lauschte und den Sherry auf der Zunge zergehen ließ, dachte er: Bald ist Allerheiligen, dann kommt Weihnachten, dann Neujahr, und dann ist der Januar da ...
Er fand es widersinnig, daß das höchste christliche Fest, Weihnachten, an dem neues Leben und neue Hoffnung gefeiert wurden, ausgerechnet in die kälteste Jahreszeit fiel, in der alles tot war und nirgends Hoffnung grünte. Nein, das war nicht richtig. Ostern war das höchste christliche Fest, die Feier der Wiederauferstehung. Zumindest sollte es so sein. Aber bei den Leuten hatte das Osterfest keine so hohe Bedeutung wie Weihnachten; aus irgendeinem Grund richteten sie ihr Augenmerk lieber auf die Geburt Christi als auf seine Überwindung des Todes ...
»Lionel?«
Pater Crispin schüttelte den Kopf. »Verzeihen Sie, Exzellenz, ich war in Gedanken.«
»Was belastet Sie so?«
Pater Crispin suchte nach den rechten Worten. Wie sollte er die eisige Furcht in Worten ausdrücken, die ihn einschnürte. Sie werden vielleicht eine Entscheidung über Leben und Tod treffen müssen, hatte Jonas Wade gesagt. Lionel Crispin erinnerte sich eines grauenvollen Erlebnisses, das noch gar nicht so lange zurücklag. Er war in das Haus eines seiner Gemeindemitglieder gerufen worden. Die Ehefrau hatte eine Frühgeburt und starke Blutungen. Pater Crispin war gerade noch rechtzeitig gekommen, um der Frau die letzte Ölung zu geben und das Neugeborene zu taufen - eine schreckliche Mißgeburt, die keinen Kopf gehabt hatte, nur einen dicken Halsstummel mit zwei hervorquellenden Augen und einem Mund, der wie ein blutiger Schlitz aussah. Es hatte gelebt, hatte sich in der Schale geregt, in die der Arzt es gelegt hatte, während die Mutter in ihrem Bett verblutet war. Pater Crispin hatte sich beinahe übergeben. Selbst jetzt noch schauderte ihn bei der Erinnerung.
»Ich fürchte mich«, sagte er leise.
»Wovor?«
»Vor der Entscheidung.« Er sah dem Bischof direkt in die Augen, und Michael Maloney erschrak beim Anblick der unverhüllten Furcht. »Dr. Wade sagte, die Entbindung könnte mit Komplikationen verbunden sein, und ich würde vielleicht zwischen Mutter und Kind entscheiden müssen.«