Mary drehte sich etwas mühsam auf die Seite, stützte die Ellbogen auf und betrachtete Germaine aufmerksam. Es gab vieles an der Freundin, worüber sie sich Gedanken machte, aber sie hatte es nie ausgesprochen. Es war, als bestünde ein stillschweigendes Einverständnis zwischen ihnen, daß gewisse Dinge unbesprochen zu bleiben hatten. Aber jetzt war sie neugierig, und der Wein hatte ihre Zurückhaltung gelockert.
»Du und Rudy, ihr schlaft oft miteinander, nicht?«
»Ja.«
»Und wie schaffst du's, daß du nicht schwanger wirst?«
Germaines Augen blitzten im Widerschein des Kerzenlichts. »Ich nehme ein Diaphragma.«
»Was ist denn das?«
»Man muß schon katholisch sein, um das nicht zu wissen. Es ist eine Form der Verhütung.«
»Oh!«
»Ja, ich weiß, daß du von Verhütung nichts hältst.«
»Es ist doch auch unnatürlich, oder? Sex ist zur Fortpflanzung da.«
»Sex soll Spaß machen, Mary, und Verhütungsmittel geben der Frau Freiheit. Warum sollen wir Frauen am Sex nicht den gleichen Spaß haben wie die Männer? Welches Gesetz schreibt uns vor, daß wir es ablehnen und ständig Angst haben müssen, schwanger zu werden?«
»Macht es dir Spaß?« fragte Mary leise.
Germaine trank erst einen Schluck Wein, dann sagte sie: »Ja.«
Mary ließ sich wieder auf den Rücken fallen und beobachtete die tanzenden Schatten an der Zimmerdecke. »Ich beneide dich. Deine Eltern sind so liberal, und du hast soviel Freiheit. Ich wette, du hast nie ein schlechtes Gewissen. Das muß herrlich sein. Ich wollte, ich wüßte, wie es ist.« Sie lachte kurz auf. »Es gibt einen Haufen Sachen, von denen ich gern wüßte, wie sie sind.«
Sie schloß die Augen und dachte an die umwerfende Entdeckung, die sie allein in ihrem Bett gemacht hatte. Sie konnte das Wunder des Orgasmus ganz allein herbeiführen und praktisch so oft sie wollte. Die Tatsache, daß sie es dem alten Pater Ignatius beichten mußte, minderte den Genuß nicht im geringsten.
Sie hätte gern gewußt, ob Germaine es auch tat; wie oft sie mit Rudy schlief; wie es war. Sie beneidete sie darum, daß sie es genießen konnte, ohne brav jeden Samstag einem Priester davon erzählen zu müssen. Mary beneidete Germaine um ihre liberale Mutter, die ihr erlaubte, Tampons zu benutzen. Lucille hatte es verboten; die Tampons würden das Jungfernhäutchen verletzen, hatte sie behauptet. Sie beneidete Germaine um ihren Rudy und die Tatsache, daß sie mit einem Mann schlafen konnte, so oft sie wollte.
Sie richtete sich wieder auf, nahm ihr Glas und trank. Germaine starrte wie hypnotisiert auf die Kerzenflamme und summte leise vor sich hin.
Nachdem Mary ihre eigene Sexualität entdeckt hatte, hatte sie angefangen, sich über die Einstellung anderer dazu Gedanken zu machen. Warum sagte ihre Mutter immer: >Kein anständiges Mädchen will das.< Warum hatten die Nonnen ihnen beigebracht, daß Sex für Frauen Pflichterfüllung sei, während der Trieb beim Mann etwas Natürliches sei.
Die Mädchen schwiegen beide, jede in ihre Gedanken vertieft. Es war ein wunderbarer Moment der Nähe und der Intimität, den beide als wohltuend empfanden.
»Mary?« sagte Germaine nach einer Weile leise.
»Ja?«
»Bist du wirklich überzeugt, daß es ein Mädchen wird?«
»Aber ja.«
»Ich habe Schwierigkeiten, an diese Theorie zu glauben.«
»Das kann ich verstehen. Aber du solltest mal hören, wenn Dr. Wade es erklärt. Dann wärst du auch überzeugt.«
Germaine warf einen verstohlenen Blick auf Marys dicken Bauch. »Ich würde gern wissen, wie es ist, wenn man ein Kind kriegt.«
»Wenn du's wirklich wissen willst, dann hör auf, dieses Ding zu nehmen, das Diaphragma, oder wie es heißt.«
Germaine senkte den Kopf. Ihr Gesicht war verdeckt, als sie gedämpft sagte: »Mary - ich muß dir was sagen.«
»Was denn?«
»Es ist ziemlich schwierig für mich.«
Mary drehte den Kopf und streckte den Arm aus, um mit den Fingerspitzen Germaines Schulter zu berühren. »Worum geht's denn?«
Germaine lachte kurz. Dann hob sie den Kopf und sah Mary direkt in die Augen. Ihr Gesicht schimmerte weiß im Kerzenlicht. »Ich wollte es dir schon lange sagen, weißt du, aber ich hab's nie fertiggebracht.«
»Germaine, du kannst mir alles sagen.«
»Ja, es ist wahrscheinlich der Wein ... Es handelt sich um Rudy, Mary.«
Mary sah die Freundin fragend an.
»Er existiert nicht«, sagte Germaine.
Mary fuhr hoch. »Was?«
»Ich hab gesagt, er existiert nicht. Es gibt keinen Rudy. Ich hab keinen Freund.«
»Das versteh ich nicht.«
»Ich hab ihn erfunden, Mary. Es gibt keinen Studenten namens Rudy, und ich habe keinen Freund, und ich schlafe auch nicht dauernd mit jemandem, wie du glaubst.«
»Aber - ich versteh dich nicht.«
»Ich hab ihn erfunden, Herrgott noch mal!«
»Warum denn?«
Germaine konnte das erstaunte Gesicht der Freundin nicht länger ertragen. Sie senkte den Blick wieder zur Kerze und trank noch einen Schluck Wein. »Zuerst waren's nur wir beide, du und ich, und das war echt gut. Dann tauchte Mike auf der Bildfläche auf, und ich hatte dich nicht mehr für mich allein. Ich weiß nicht, vielleicht war ich gekränkt oder eifersüchtig oder so was.« Sie machte eine Pause und sah flüchtig auf. »Dann wart ihr beide fest zusammen, und ich - ach, ich weiß auch nicht, vielleicht wollte ich dir nur zeigen, daß ich es auch kann -, ich mein, einen festen Freund haben.«
Germaine schwieg. Mary schwamm der Kopf vom vielen Wein. Sie sah die Freundin aufmerksam an. »Das tut mir leid«, sagte sie leise.
Germaine warf den Kopf zurück, vermied es aber immer noch, Mary anzusehen. Das ist noch nicht alles, dachte sie, während sie die Flasche nahm und sich nochmals einschenkte. Aber das andere würdest du nicht verstehen.
Germaine verstand es ja selbst nicht. Darum konnte sie es auch nicht der Freundin klarmachen. Sie hatte entdeckt, daß ihr an Jungen überhaupt nichts lag. Aber sie wünschte verzweifelt, es wäre anders. Sie wünschte, sie könnte sich endlich einmal richtig verlieben. Aber irgendwie hatte sie Angst, und die Träume, die sie in letzter Zeit gehabt hatte - oder waren es Phantasien? -, hatten sie sehr erschreckt.
Germaine schüttelte den Kopf und starrte niedergeschlagen in die kleine Flamme der Kerze. Sie wünschte sich, Mary würde sie in die Arme nehmen und sie an ihrer Schulter weinen lassen. Sie wünschte sich, sie wäre ihr wichtig und könnte ihr sagen, wie gern sie sie hatte ...
»Du hättest doch gar nichts zu erfinden brauchen«, hörte sie Mary sagen. »Mir ist es gleich, ob du einen Freund hast oder nicht.«
Du verstehst mich nicht, dachte Germaine hoffnungslos und bemühte sich, den Gedanken klar zu bekommen, dem sie schon seit Monaten nachjagte und den sie nie zu fassen bekam. Ich wollte nicht, daß du denkst, an mir wäre was komisch; daß ich vielleicht nicht so bin wie andere Mädchen ...
Aber auch jetzt ließ sich der nebelhafte Gedanke nicht greifen. Voller Angst vor sich selbst und abgestoßen von dem, was sie argwöhnte, sagte Germaine unglücklich: »In Wirklichkeit, Mary, hab ich - hab ich überhaupt noch nie irgendwas mit einem Jungen getan .«
Mary fühlte sich erhitzt und ein wenig schwindlig. Wäre sie nüchtern gewesen, so hätte sie vielleicht den Sinn hinter den Worten der Freundin erfaßt und hätte es Germaine ersparen können, etwas erklären zu müssen, was sie selbst nicht verstand. Aber Mary trank Wein und fühlte sich leicht und durchsichtig und hörte nur das, was ausgesprochen wurde.
Sie betrachtete Germaines langes schwarzes Haar, auf dem das Kerzenlicht glänzte. Sie hätte es gern berührt, die seidige Weichheit gefühlt ...
»Na ja«, sagte Germaine mit einem tiefen Seufzer, »jetzt weißt du's. Jetzt weißt du mein tiefstes finsterstes Geheimnis.«