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Mary sah sich im Zimmer um.

»Ich war mit ihm verheiratet. Jetzt bin ich Witwe. Er starb vor sieben Jahren. Ganz plötzlich, an einem Herzinfarkt. Wir wollten in die Ferien fahren und packten die Sachen ins Auto. Er ging noch einmal ins Haus, um eine Taschenlampe zu holen. Aber er kam nicht wieder heraus. Johnny fand ihn. Sam war einundvierzig Jahre alt.« Gloria richtete die hellen Augen auf Mary. »So habe ich deinen Vater kennengelernt. Ich mußte Sams Aktien verkaufen, um die Begräbniskosten bezahlen zu können. Dein Vater war Sams Anlageberater. - Dein Tee wird ganz kalt, Kind.«

Mary sah auf die Tasse in ihrer Hand, als hätte sie sie eben erst gesehen. Hundert Fragen lagen ihr plötzlich auf der Zunge.

»Wie ist es, wenn man ein Kind bekommt?«

»Oh.« Gloria lachte leise. »Mary, das ist bei jeder Frau anders. Und bei jedem Kind. Bei meiner ersten Schwangerschaft stellte sich heraus, daß der Kopf des Kindes für mein Becken zu groß war. Die Ärzte mußten einen Kaiserschnitt machen. Sie sagten mir, wenn einmal ein Kaiserschnitt gemacht worden ist, muß er auch bei allen nachfolgenden Entbindungen gemacht werden. Aber ich wollte mein zweites Kind auf natürliche Weise zur Welt bringen. Und ich setzte mich durch. Eine ganze Nacht lang haben Johnny und ich geschuftet, wir haben gedrückt und gepreßt, und der Schweiß ist mir in Strömen runtergelaufen. Ich war so fertig, daß ich dachte, einer von uns würde auf der Strecke bleiben. Aber dann flutschte er raus wie nichts, und die nächsten beiden Entbindungen waren ein Kinderspiel.«

Gloria hielt einen Moment inne und hing Erinnerungen nach. Dann sagte sie: »Es kommt auf alles mögliche an, Mary. Auf deinen Zustand, auf den Zustand des Kindes, und auf den Arzt. In manchen Krankenhäusern geben sie einem eine Narkose, und man bekommt überhaupt nichts mit. In anderen machen sie eine Kaudalanästhesie, und man kann wenigstens zuschauen. Jetzt gibt es, soviel ich weiß, Ärzte, die für eine natürliche Geburt ganz ohne Betäubung sind.«

»Ist das denn möglich?« fragte Mary erstaunt.

Gloria lachte erheitert. »Aber natürlich. Tausende von Jahren haben Frauen ihre Kinder auf natürlichem Weg zur Welt gebracht. Oder glaubst du, die alten Griechen haben Äther verwendet?«

Mary runzelte die Stirn. »Darüber hab ich nie nachgedacht.«

»Eine Geburt ist ein wunderbares Erlebnis, Mary. Man kann es nicht beschreiben. Jede Frau muß es selbst erleben.«

Mary stellte ihre Tasse auf den Klapptisch und legte beide Hände auf ihren Bauch. »Ich werde morgen geröntgt«, sagte sie. »Dr. Wade hat gesagt, es wäre alles in Ordnung, er will nur die Entwicklung des Kindes genau überwachen.« Sie hob den Kopf und sah Gloria mit ihren kühlen blauen Augen an. »Ist das normal, daß man geröntgt wird?«

Sie sah den Schatten, der über Glorias Gesicht flog, ehe diese sich abwandte. »Mary, meine letzte Schwangerschaft ist so lange her, daß ich gar nicht weiß, was heutzutage zum normalen Behandlungsablauf gehört.«

»Aber Dr. Wade hat Angst, daß etwas nicht in Ordnung ist, stimmt's?«

Gloria wandte sich ihr wieder zu. »Du hast es doch eben selbst gesagt, Mary. Du bist ein besonderer Fall. Ich denke, dein Arzt möchte lediglich alles Menschenmögliche tun, um sicherzustellen, daß es dir und deinem Kind gutgeht. Ganz gewiß hast du keinen Anlaß, dir Sorgen zu machen.«

Die angenehm rauhe Stimme, die so bestimmt und sicher klang, und das klare Lächeln auf dem unscheinbaren, aber sympathischen Gesicht beruhigte Mary. Sie nahm ihre Tasse und trank den letzten Schluck Tee, und dabei fiel ihr plötzlich auf, daß sie über diesem offenen, warmen Gespräch mit Gloria Renfrow den ursprünglichen Grund ihres Kommens völlig vergessen hatte.

Sie sah die Frau neben sich beinahe herausfordernd an und sagte: »Sind Sie katholisch?«

Die Frage schien sie nicht zu überraschen. »Warum? Würde das für dich etwas ändern? Würde das -« Gloria senkte die Stimme ein wenig - »die Sünde deines Vaters mildern?«

Mary antwortete nicht.

»Ich kann und will nicht für deinen Vater sprechen«, fuhr Gloria ruhig fort. »Was er zu sagen hat, muß er dir selbst sagen. Aber was mich angeht ... Ich war plötzlich allein mit drei halbwüchsigen Jungen und fühlte mich sehr allein gelassen. Und gerade in dieser Zeit, wo mir so sehr jemand fehlte, an den ich mich einmal anlehnen konnte, trat dein Vater in mein Leben. Aber bitte glaub jetzt ja nicht, ich hätte ihn mit List und Tücke zum Ehebruch verführt. Dein Vater war damals auch in einer Situation, wo er dringend jemanden brauchte. So etwas geht immer nur, wenn beide wollen.«

Sie schwieg einen Moment. »Glaub mir«, sagte sie dann, »es ist nicht leicht, die Freundin oder Geliebte eines verheirateten Mannes zu sein.« Ihre Stimme wurde ein wenig brüchig. »Obwohl ich ihn von ganzem Herzen liebe und alles für ihn tun möchte, muß ich immer im Hintergrund bleiben und mich mit einem zweiten Platz in seinem Leben begnügen. Es ist, als lebte man immer im Schatten. Ich kann ihn niemals anrufen, wenn ich traurig bin. Ich kann niemals an den Wochenenden oder im Urlaub mit ihm Zusammensein; ich kann nicht mit ihm ausgehen oder verreisen. Wenn ich ihm ein Geschenk mache, kann er es nicht mit nach Hause nehmen. Ich muß mich damit zufriedengeben, jede Woche ein paar Stunden mit ihm zu verbringen, und mehr nicht. Und wenn du glauben solltest, daß ich mich von ihm aushalten lasse, dann schlag dir das mal ganz schnell aus dem Kopf. Ich bin berufstätig und verdiene mir allein meinen Lebensunterhalt. Dein Vater gibt mir kein Geld. Und ich will auch keines. Ich will nur ihn

selbst.«

Marys Augen brannten. »Aber wenn er meine Mutter so unerträglich findet, warum verläßt er sie dann nicht?«

»Er findet sie nicht unerträglich, Mary. Vielleicht kannst du das jetzt noch nicht verstehen, aber dein Vater liebt sie und er liebt mich. Nur auf unterschiedliche Weise. Du weißt nicht viel von Männern, Kind, und auch wenn du mal so alt bist wie ich, wirst du vieles nicht verstehen.« Sie lachte kurz und bitter. »Und da heißt es immer, die Frauen seien geheimnisvoll!«

»Und - und Sie lieben ihn wirklich?«

»Ja, ich liebe deinen Vater, Mary.«

Mary kämpfte mit den Tränen.

»Sei ihm nicht böse, Mary«, sagte Gloria. »Ich hoffe, wenn du älter bist, wirst du ihn verstehen.«

»Aber wie kann er nur!« stieß sie weinend hervor. »Er ist streng katholisch -«

»Mary, was glaubst du denn, warum dein Vater hierher kommt? Ich weiß, was du denkst, und du täuschst dich, Kind. Natürlich war das Sexuelle am Anfang wichtig, das will ich gar nicht bestreiten. Es hat eine große Rolle gespielt. Ich denke, daß es für viele einsame Menschen der einfachste Weg ist, sich gegenseitig zu trösten. Aber das ist sieben Jahre her. Soll ich dir sagen, was wir hier jeden Mittwochabend tun, Mary? Dein Vater kommt herein, zieht seine Schuhe aus und setzt sich mit mir zusammen vor den Fernseher. Manchmal spielen wir Karten. Oder er richtet mir den Wasserhahn in der Küche. Oder wir setzen uns in den Garten und schauen zu, wie die Sonne untergeht. Und hin und wieder schlafen wir auch zusammen.

Mary, ich weiß, warum du hergekommen bist. Seit dein Vater mir neulich von eurem Gespräch erzählt hat, habe ich dich erwartet. Du hast deinen Vater als Heiligen gesehen. Und jetzt stellst du fest, daß er auch nur ein Mensch ist. Du bist wütend auf ihn - und vermutlich auch auf mich -, daß er dir das antut. Du bist hergekommen, weil du hofftest, du würdest den Heiligen zurückbekommen; du hofftest, ich würde alles bestreiten, und du könntest deinen Vater dann wieder aufs Podest heben. Ich kann es verstehen, ich hatte auch einen Vater ... Aber ich kann dir diesen Gefallen nicht tun, Mary.