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Nachdem sie in den Papierkittel geschlüpft war, setzte sie sich auf den Untersuchungstisch und wartete nervös. Zu ihrer Überraschung kam nicht der Arzt herein, sondern wieder die Sprechstundenhilfe, die ihr den Arm abband und ihr eine Ampulle voll Blut abnahm. Dann drückte sie ihr einen Plastikbecher in die Hand und schickte sie mit der Anweisung, ihren Urin in dem Becher aufzufangen, in die kleine Toilette neben dem Sprechzimmer.

Nachdem Mary das erledigt hatte, hockte sie sich wieder auf den Untersuchungstisch, und als endlich Dr. Wade hereinkam, fiel ihr das Herz vollends in die Hose.

Er war viel zu jung, höchstens Anfang Vierzig. Sehr groß und schlank in dem langen weißen Kittel. Das Haar war schwarz mit einigen grauen Sprenkeln. Sein Lächeln war so routiniert, dachte Mary, als hätte er es vor dem Spiegel einstudiert. Die schwarzen Augen waren lebhaft und scharf, als könnten sie durch den Papierkittel hindurchsehen.

»Hallo«, sagte er und blickte auf die Karte in seinen Händen. »Was ist dir lieber, Mary oder Mary Ann?«

»Mary«, antwortete sie mit kleiner Stimme.

»Okay, Mary, ich bin Dr. Wade. Also -« er faltete die Karte auseinander - »deine Mutter schreibt hier auf dem Formular, das sie für uns ausgefüllt hat, du hättest die Grippe.« Sein Lächeln wurde breiter. »Wollen wir mal schauen, ob ihre Diagnose richtig ist?«

Mary nickte.

Er legte die Karte weg und ging zum Waschbecken, um sich die Hände zu waschen. »Auf welche Schule gehst du, Mary?«

»Reseda Highschool.«

»Elfte Klasse?«

»Ja.«

»Jetzt sind bald Ferien, nicht?«

»Ja.«

Dr. Wade drehte sich um und sah sie lächelnd an, während er sich die Hände an einem Papiertuch trocknete. »Und hast du schon Pläne für den Sommer? Fährst du weg?«

Sie schüttelte den Kopf.

Immer noch lächelnd, stellte er ihr in einem Ton, als kenne er sie seit Jahren, eine Reihe von Fragen, die Mary jeweils nur mit einem kaum hörbaren »Ja« oder »Nein« beantwortete, während sie sich ernsthaft zu erinnern suchte, ob sie je Keuchhusten oder die Masern oder sonst eine schwere Krankheit gehabt hatte, ob sie an wiederkehrenden Kopfschmerzen oder Schwindelgefühlen litt. Dr. Wade machte sich bei jeder ihrer Antworten einen kleinen Vermerk auf seiner Karte und sagte schließlich: »Gut, Mary, kommen wir jetzt auf das aktuelle Problem. - Was für Beschwerden hast du?«

Sie schilderte ihm stockend die Lethargie und die Übelkeit der letzten drei Tage. Fragen nach Halsschmerzen, Übergeben, Durchfall, Kopfschmerzen, Schüttelfrost und Fieber verneinte sie.

Als er den silbernen Füller zumachte und einsteckte, klopfte es leise, und die Sprechstundenhilfe trat ein. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, reichte sie Dr. Wade wortlos mehrere Papiere in verschiedenen Farben.

In der Stille, die ihr bedrückend erschien, hockte Mary in ihrem Papierkittel auf dem Untersuchungstisch und beobachtete den Arzt, während er die verschiedenen Berichte las; erst den gelben, dann den roten, danach den blauen und schließlich den weißen. Seine Miene blieb unverändert.

Als er die Papiere in die gefaltete Karte steckte und lächelnd den Kopf hob, zog sich Mary unwillkürlich zusammen. Jetzt kam der Teil, vor dem ihr graute. Die Finger des Arztes waren überraschend kühl, als er behutsam ihren Hals abtastete, die Unterlider ihrer Augen herunterzog, ihr Haar beiseite strich, so daß er ihr in die Ohren sehen konnte. Während er sie untersuchte, unterhielt er sich ruhig und freundlich mit ihr.

»Was hast du denn nach der Highschool vor, Mary?«

Das kalte Stethoskop berührte ihren Rücken. »Ich weiß noch nicht. Ich geh wahrscheinlich nach Berkeley.«

»Ah, da habe ich auch studiert. Bitte tief einatmen. Halte die Luft jetzt einen Moment an. Ja. Jetzt langsam ausatmen.«

»Aber ich hätte auch Lust, zum Peace Corps zu gehen.«

»Noch mal einatmen. Anhalten. Langsam ausatmen.« Das kalte Ding bewegte sich über ihren Rücken. »So, zum Peace Corps? Ja, ich kann mir vorstellen, daß das interessant wäre.«

Er trat jetzt vor sie hin und zog ihren Kittel auseinander, um ihr das Stethoskop unter die linke Brust zu drücken. Mary machte die Augen zu.

»Mich würde da Ost-Afrika reizen«, bemerkte er ruhig, »aber ich denke, im San Fernando Tal gibt's für mich genug zu tun.«

Mary versuchte zu lächeln und atmete auf, als er das Stethoskop entfernte. Dann schlug er ihr mit einem kleinen Hämmerchen aufs Knie und bat sie, sich niederzulegen.

Mary biß die Zähne aufeinander und streckte sich aus. Sie starrte zur weißen Zimmerdecke hinauf, während Dr. Wade ihren Bauch abtastete. Als er den Papierkittel hochschob und sie die kühle Luft auf ihrer Brust spürte, hielt sie den Atem an.

»Bitte heb deinen rechten Arm über den Kopf.«

Sie drückte wieder die Augen zu. Seine Finger betasteten ihre Brust und die Achselhöhle. Sie zuckte zusammen.

»Tut das weh?«

»Ja«, flüsterte sie.

Nochmals drückte er behutsam. »Hier auch?«

»Ja.«

»Und hier?«

»Ja ...«

Dann wiederholte er die Untersuchung an der anderen Brust. »Sag mal, Mary, was ist dir unangenehmer? Arzt oder Zahnarzt?«

Sie öffnete die Augen und sah in Dr. Wades lächelndes Gesicht. »Äh - ich -«

»Für mich ist der Zahnarzt so ziemlich das Schlimmste, was es gibt. Ich schlucke vorher jedesmal ein Beruhigungsmittel, auch wenn ich weiß, daß nur eine Füllung gemacht werden muß.«

Sie lachte ein wenig.

»Tut das hier weh?«

»Ja.«

Als er den Kittel endlich wieder herunterzog und vom Untersuchungstisch wegtrat, setzte sich Mary hastig auf. Dr. Wade hatte die Karte wieder zur Hand genommen.

»Wann hattest du das erstemal deine Periode, Mary?« fragte er, ohne aufzusehen. »Wie alt warst du da?«

Mary wurde rot. »Ich - äh - ich war zwölf.«

»Und sie kommt immer regelmäßig?«

Sie leckte sich die spröden Lippen. »Ja, eigentlich schon. Das heißt, nicht ganz. Manchmal dauert es nur fünfundzwanzig Tage und manchmal mehr als dreißig.«

»Wann hattest du die Periode das letztemal?«

»Hm .« Sie überlegte. »Ich weiß es nicht mehr«, sagte sie schließlich mit gerunzelter Stirn.

Er nickte, während er schrieb. »Versuch doch mal, dich zu erinnern. Ist es weniger als einen Monat her?«

»Nein, ich glaub nicht.« Sie zog die Brauen zusammen, während sie zurückdachte. Sie hatte nie Buch geführt, wie andere Mädchen das taten. Es war ihr einfach zu lästig gewesen. Aber als sie jetzt zurückblickte, schien ihr eine lange Zeit vergangen zu sein, seit sie das letztemal ihre Tage gehabt hatte. »Es muß vor Ostern gewesen sein.«

Dr. Wade nickte wieder, während er schrieb. Dann steckte er seinen Füller ein und sah Mary lächelnd an. »Wir sind gleich fertig. Wartest du noch einen Moment? Ich bin gleich wieder da.« Damit ging er aus dem Behandlungsraum.

Dr. Wade kam nicht wieder. An seiner Stelle erschien einige Minuten später die Sprechstundenhilfe, die wartete, bis Mary sich angekleidet hatte und führte sie in ein freundliches, behaglich eingerichtetes Sprechzimmer.

An den holzgetäfelten Wänden standen mehrere hohe Regale mit Fachbüchern, dazwischen hingen hübsch gerahmte alte Stiche und moderne Aquarelle. Auf dem großen Schreibtisch stapelten sich Fachzeitschriften und Papiere. An der rechten Ecke stand eine Leselampe und davor ein gerahmtes Foto von einer Frau, die zwei Teenager, ein Mädchen und einen Jungen, in den Armen hielt.