Sie hatten geplant, während der Ferien gemeinsam zu nähen, da der Stoff leicht für zwei Kleider reichte.
Lucille strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Wahnsinnig, diese Hitze. Wir bekommen bestimmt einen heißen Sommer.«
Mary sah ihrer Mutter in das gerötete Gesicht. Vor langer Zeit hatte sie den rosigen Teint ihrer Mutter bewundert; sie brauchte niemals Rouge wie andere Frauen; doch später, sie mußte ungefähr vierzehn gewesen sein, hatte sie entdeckt, daß die rosigen Wangen nicht naturgegeben waren, sondern von einem gelegentlichen nachmittäglichen Cocktail herrührten.
Mittwochs wurde immer schon um halb sechs zu Abend gegessen, weil Ted zum Turnen ging und Lucille zu ihrem Frauenverein. Günstigerweise fand auch der Firmunterricht, an dem Amy derzeit teilnahm, regelmäßig Mittwoch abends statt.
»Gehst du heute abend mit Mike weg?« fragte Ted seine älteste Tochter.
Mary nickte. »Wir gehen ins Kino. Im Corbin läuft ein neuer Film. Mondo Cane. Die meisten aus meiner Klasse waren schon drin.«
»Und wie geht's dir im Firmunterricht, Amy? Brauchst du Hilfe?«
»Ach wo.« Amy schüttelte den Kopf, daß die braunen Haare flogen. »Schwester Agatha hilft mir prima. Es ist eigentlich genau das gleiche wie vor der Kommunion.«
Ted nickte lächelnd und dachte flüchtig an die Tage in Chicago, als er auf dem Priesterseminar gewesen war. Das war vor Ausbruch des Krieges gewesen. 1941 hatte Ted das Seminar verlassen, um an die Front zu gehen, und nach drei Jahren im Süd-Pazifik hatte er sich nicht mehr zum Priester berufen gefühlt. Er hatte eine ganz andere Laufbahn eingeschlagen und war ein erfolgreicher Börsenmakler geworden, aber manchmal, wenn wie jetzt etwas Erinnerungen weckte, fragte er sich, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er damals auf dem Seminar geblieben wäre.
»Aber das mit den kleinen Babys«, sagte Amy, »find ich trotzdem gemein.«
Aus seinen Gedanken gerissen, sah er Amy blinzelnd an. »Wie meinst du das?«
»Ach, Daddy, du hast ja überhaupt nicht zugehört! Schwester Agatha hat uns letzte Woche vom Fegefeuer erzählt und daß da die ganzen kleinen Kinder sind, die noch nicht getauft sind. Ich finde es gemein vom lieben Gott, daß er so was tut, wo sie doch überhaupt nichts dafür können.«
»Aber du weißt doch, Amy«, sagte Ted bedächtig, »wenn sie nicht getauft sind, dann sind sie immer noch mit der Erbsünde belastet. Und solange man mit der Erbsünde belastet ist, kann man nicht in den Himmel kommen. Darum werden wir ja alle getauft.«
»Und darum«, sagte Mary leise, »haben die Ärzte Mrs. Franchimonis Baby gerettet und Mrs. Franchimoni sterben lassen.«
Lucille hob mit einem Ruck den Kopf. »Wer hat dir das erzählt, Mary Ann?«
»Pater Crispin. Aber vorher hörte ich es von Germaine. Die hörte, wie ihre Mutter mit einer Nachbarin darüber sprach.«
»Ach, Germaine Massey, das hätte ich mir ja denken können. Ihre Eltern sind Sozialisten, das weißt du wohl.«
»Na und?«
»Für mich sind das die gleichen wie die Kommunisten, und ich sage, wenn sie unbedingt den Kommunismus wollen, dann sollen sie doch nach Rußland gehen und dort leben. Mal sehen, ob es ihnen dann immer noch so gut gefällt.«
»Was war denn mit Mrs. Franchimonis Baby?« fragte Amy neugierig.
»Germaine hat mir erzählt, die Ärzte hätten Mr. Franchi-moni gesagt, seine Frau sei in Lebensgefahr, und sie wollten das Kind opfern, um Mrs. Franchimoni zu retten. Aber Mr. Franchimoni sprach mit Pater Crispin darüber, und der sagte, das Kind müsse um jeden Preis am Leben erhalten werden. Also sagte Mr. Franchimoni den Ärzten, sie sollten das Kind retten, und darum mußte Mrs. Franchimoni sterben.«
»Aber das ist ja furchtbar!« rief Amy entsetzt.
»Mary.« Ted legte sein Besteck weg und faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. »So einfach ist es nicht. Die Sache ist weit komplizierter.«
»Oh, ich weiß, Dad. Nachdem Germaine mir das erzählt hatte, habe ich Pater Crispin danach gefragt, und der hat mir alles erklärt.«
»Was sagte er denn?«
»Er sagte, zwischen dem sterblichen Leben und dem spirituellen Leben sei ein Unterschied, und uns ginge es darum, das spirituelle Leben zu retten. Wenn die Mutter stirbt, sagte er, kommt sie in den Himmel, weil sie getauft ist. Aber man muß auch dem Kind die Möglichkeit geben, getauft zu werden, weil es sonst niemals in den Himmel kommen kann.«
Ted nickte nachdenklich. Dann sah er Amy an. »Verstehst du das?«
»So ungefähr, ja.«
»Wenn man die Mutter rettet und das Kind sterben läßt, kommt nur eine Seele in den Himmel. Aber wenn man die Mutter sterben läßt und das Kind zur Welt bringt und tauft, dann kommen zwei Seelen in den Himmel. Das ist der wichtige Unterschied, Amy: Seelen statt irdische Leben. Pater Crispin hat recht. Okay, Amy?«
»Ja, wahrscheinlich. Es wäre schon schlimm, wenn so ein Baby ins Fegefeuer müßte.«
Danach schwiegen alle. Amy hielt den Blick auf ihren Teller gesenkt und fragte sich, warum Gott, der allmächtig war und alle Wesen liebte, nicht bereit war, kleine ungetaufte Kinder in den Himmel zu lassen. Lucille dachte an Rosemary Franchimoni und das letzte Gespräch, das sie mit ihr geführt hatte. Ted dachte daran, daß Arthur Franchimoni sich nach dem Tod seiner Frau völlig von der Kirche zurückgezogen hatte. Und Mary fragte sich, während sie mit Widerwillen in ihrem Brokkoli herumstocherte, wann Mike sie abholen würde.
Das Läuten des Telefons brach das Schweigen. Mit einem Sprung war Amy von ihrem Stuhl und flitzte in den Flur hinaus. Sie konnten ihre gedämpfte Stimme hören. Dann kam sie schon wieder hereingelaufen.
»Es ist Dr. Wade.«
»Oh! Was will er denn?«
»Keine Ahnung. Er wartet am Telefon.«
Lucille stand auf und ging hinaus. Die anderen warteten schweigend.
»Er hat mich gebeten, nachher mit Mary in seine Praxis zu kommen«, berichtete sie bei ihrer Rückkehr.
»Heute abend noch? Wozu denn das?«
»Er hat jetzt alle Befunde und möchte es uns persönlich sagen.«
»Ach, Mutter, das ist doch längst vorbei. Mir geht's wieder gut. Hast du ihm das nicht gesagt? Außerdem wird Mike gleich kommen und -«
»Wir gehen auf jeden Fall hin, Mary. Wir werden ja sehen, was er sagt. Wahrscheinlich verschreibt er dir nur ein paar Vitamine.«
Diesmal fühlte sich Mary weit wohler, als sie in dem Ledersessel vor Dr. Wades Schreibtisch saß und sich in seinem Sprechzimmer umsah. Heute war ja auch keine peinliche Untersuchung zu erwarten, sondern nur ein Bericht über ihre Befunde. Als Dr. Wade hereinkam und leise die Tür hinter sich schloß, sah Mary ihn mit ganz anderen Augen als bei ihrem ersten Besuch. Er war nicht so groß, wie er ihr damals erschienen war und auch nicht mehr so jung. Sie sah die Fältchen um seinen Mund und seine Augen, und er schien mehr graue Haare zu haben als das letztemal. Das Lächeln jedoch war unverändert, vertraueneinflößend und herzlich.
»Hallo, Mary«, sagte er ruhig und bot ihr die Hand.
Sie nahm sie ein wenig scheu. »Hallo, Dr. Wade.«
»Also.« Er ging um seinen Schreibtisch herum und räumte einige Schriftstücke weg, ehe er sich setzte. Lächelnd sagte er: »Als ich in deinem Alter war, Mary, war ich überzeugt, Ärzte hätten ein unheimlich leichtes Leben. Sie brauchen die Leute nur A sagen zu lassen und fahren ansonsten in Cadillacs spazieren. Eine schöne Illusion war das!«
Mary lachte.
»Okay, Mary, deine Befunde sind jetzt alle da.« Er griff nach einem Hefter und schlug ihn auf. »Blut und Urin praktisch unverändert. Du hast doch sicher Biologie in der Schule?«
»Ja.«
»Dann weißt du, daß Infektionen sich immer im Blut zeigen und daß ein Tropfen Urin genügt, um die verborgensten Dinge zu diagnostizieren.«
»O ja.«
Dr. Wade machte eine kleine Pause und sah zu den Berichten hinunter, die er vor sich liegen hatte. Als er den Blick wieder hob, sah Mary mit Überraschung, daß das Lächeln