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Mirjam Pressler, geboren 1940 in Darmstadt, besuchte die Hochschule für Bildende Künste in Frankfurt und lebt heute als freischaffende Autorin und Übersetzerin in München. Im Programm Beltz & Gelberg erschienen u.a. die Romane Bitterschokolade (Oldenburger Jugendbuchpreis 1980), Kratzer im Lack, Novemberkatzen, Nickel Vogelpfeifer (Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis 1987), Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen (Deutscher Jugendliteraturpreis) sowie die Biographie über Anne Frank Ich sehne mich so. Für ihr Übersetzerwerk wurde Mirjam Pressler mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises 1994 ausgezeichnet.

1

«Eva«, sagte Herr Hochstein. Eva senkte den Kopf, griff nach ihrem Füller, schrieb.»Eva«, sagte Herr Hochstein noch einmal. Eva senkte den Kopf tiefer, griff nach Lineal und Bleistift, zeichnete die Pyramide. Sie hörte ihn nicht. Sie wollte ihn nicht hören. Nicht aufstehen, nicht zur Tafel gehen. Jetzt hatte sie gewackelt. Blind tastete sie nach dem Federmäppchen, ließ ihre Finger über die Gegenstände gleiten, harte Bleistifte, ein kleiner, kantiger Metallspitzer, der Kugelschreiber mit der abgebrochenen Klammer, aber kein Radiergummi. Sie nahm ihre Schultasche auf die Knie, suchte mit gesenktem Kopf. Man kann lange nach einem Radiergummi wühlen. Ein Radiergummi ist klein in einer Schultasche.

«Barbara«, sagte Herr Hochstein. In der dritten Reihe erhob sich Babsi und ging zur Tafel. Eva schaute nicht auf. Aber sie wusste trotzdem, wie Babsi ging, mit schmalen, langen Beinen, mit dem kleinen Hintern in engen Jeans.

Eva fand den Radiergummi und hängte die Schultasche wieder an den Haken. Sie radierte die verwackelte Linie und zog sie neu.

«Gut hast du das gemacht, Barbara«, sagte Herr Hochstein. Babsi kam durch den schmalen Gang zwischen den Bankreihen zurück und setzte sich. In ihr Stuhlrücken hinein schrillte die Glocke.

Dritte Stunde Sport. Gekicher und Lachen im Umkleideraum. Es würde ein heißer Tag werden, es war jetzt schon heiß. Eva zog ihre schwarzen Leggings an, wie immer, und dazu ein schwarzes T-Shirt mit kurzen Ärmeln. Sie gingen zum Sportplatz. Frau Madler pfiff und alle stellten sich in einer Reihe auf. Handball.

«Alexandra und Susanne wählen die Mannschaft.«

Eva kauerte sich nieder, öffnete die Schleife an ihrem linken Turnschuh, zog den Schnürsenkel heraus und fädelte ihn neu ein.

Alexandra sagte:»Petra.«

Susanne sagte:»Karin.«

Eva hatte den Schnürsenkel durch die beiden untersten Löcher geschoben und zog ihn gerade, sorgfältig zog sie die beiden Teile auf gleiche Länge.

«Karola.«-»Anna.«-»Ines.«-»Nina.«-»Kath-rin.«

Eva fädelte langsamer.

«Maxi.«-»Ingrid.«-»Babsi.«-»Monika.«-»Fran-ziska.«-»Christine.«

Eva begann mit der Schleife. Sie kreuzte die Bänder und zog sie zusammen.

«Sabine Müller.«-»Lena.«-»Claudia.«-»Ruth.«-»Sabine Karl.«

Eva ließ das Band über ihre Finger gleiten, legte die

Schleife und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger fest.

«Irmgard.«—»Maja.«-»Inge.«-»Ulrike.«-»Hanna.«-»Kerstin.«

Ich müsste meine Turnschuhe mal wieder waschen, dachte Eva, sie haben es nötig.

«Gabi.«-»Anita.«-»Agnes.«-»Eva.«

Eva zog die Schleife fest und erhob sich. Sie war in Alexandras Gruppe.

Eva schwitzte. Der Schweiß rann ihr von der Stirn über die Augenbrauen, über die Backen und manchmal sogar in die Augen. Immer wieder musste sie ihn mit dem Unterarm und dem Handrücken wegwischen. Der Ball war hart und schwer, und die Finger taten ihr weh, wenn sie ihn einmal erwischte.

Auch die anderen hatten große Schweißflecken unter den Armen, als die Stunde zu Ende war. Eva ging sehr langsam zum Umkleideraum, sie zog sich sehr langsam aus. Als sie sich ihr großes Handtuch übergehängt hatte und die Tür aufmachte, waren nur noch ein paar Mädchen im Duschraum. Sie ging zur hintersten Dusche, zu der in der Ecke. Nun beeilte sie sich, ließ das kalte Wasser über Rücken und Bauch laufen, nicht über den Kopf, das Fönen dauerte bei ihr zu lange. Mit den Händen klatschte sie sich Wasser ins Gesicht. Die Zementwand bekam dunkle Flecken, wo sie nass geworden war. Jetzt war Eva ganz allein im Duschraum. In aller Ruhe trocknete sie sich ab und hängte

sich das Handtuch wieder so über die Schulter, dass es ihren Busen und ihren Bauch verdeckte. Im Umkleide-rauni war niemand mehr. Als sie sich gerade ihren Rock angezogen hatte, öffnete Frau Madler die Tür.»Ach, Eva, du bist noch da. Bring mir doch nachher den Schlüssel.«

Eva kreuzte die Arme vor ihrer Brust und nickte.

Die große Pause hatte schon angefangen. Eva holte sich ihr Buch aus dem Klassenzimmer und ging in den Pausenhof. Sie drängte sich zwischen den Mädchen hindurch bis zu ihrer Ecke am Zaun. Ihre Ecke! Sie setzte sich auf den Zementsockel des Zaunes und blätterte in ihrem Buch, suchte die Stelle, an der sie gestern Abend aufgehört hatte zu lesen. Neben ihr standen Lena, Babsi, Karola und Tine. Babsi war aber doch die Schönste. Dass sie sich das traute, das enge, weiße T-Shirt über der nackten Brust!

Eva fand die Stelle im Buch. Ich betrachtete den Toten, seine ausgezehrte Gestalt. Die Falten in seinem Gesicht, obwohl er höchstens fünfunddreißig sein mochte. Er war einen für die Indios typischen Tod gestorben. An Entkräftung. Sie kauen Kokablätter, um den Hunger zu unterdrücken, und eines Tages fallen sie um und sind tot.

«Ich war gestern in der Disko. Mit Johannes, dem Sohn von Dr. Braun.«

«Mensch, Babsi, das ist ja toll. Wie ist der denn so, so aus der Nähe?«

«Prima. Und tanzen kann der!«

Eva las weiter in» Warum zeigst du der Welt das Licht?«Vom schlanken Schlemmer bis hin zur Hollywoodkur fiel mir alles ein. Von der Vernichtung der Überproduktion in der EWG bis zu den Appetithemmern, die in den Schaufenstern der Apotheken angepriesen werden.

«Seid ihr mit seinem Auto gefahren?«

«Natürlich.«

«Mein Bruder ist mit ihm in einer Klasse.«

Er hatte Hunger, ich wusste es. Auch ich hatte Hunger, und ich konnte meine Röcke nur mehr mit Sicherheitsnadeln daran hindern, mir am Körper herunterzurutschen. Ich machte die natürlichste Abmagerungskur der Welt. Ich hatte wenig zu essen.

Die Mädchen kicherten. Eva konnte nichts mehr verstehen, sie flüsterten jetzt. Franziska setzte sich neben Eva.

«Was liest du denn?«

Eva klappte das Buch zu, den noch nicht gelesenen Teil zwischen Ringfinger und Mittelfinger haltend.

«Warum zeigst du der Welt das Licht?«, las Franziska laut.»Ich kenne es auch. Gefällt es dir?«

Eva nickte.»Es ist spannend. Und manchmal traurig.«

«Magst du traurige Bücher?«

«Ja. Ich finde, wenn ein Buch gut sein soll, muss man wenigstens einmal weinen können beim Lesen.«

«Ich weine eigentlich nie beim Lesen. Aber im Kino, wenn es traurig ist, weine ich sehr schnell.«

«Bei mir ist es umgekehrt. Im Kino weine ich nie, aber beim Lesen oft. Ich gehe aber auch selten ins Kino.«

«Wir könnten doch mal zusammen gehen. Magst du?«

Eva zuckte mit den Schultern.»Könnten wir.«

Wann weinte sie? Welche Stellen in Büchern waren es, die sie zum Weinen brachten? Eigentlich immer Worte wie Liebe, Streicheln, Vertrauen, Einsamkeit, richtig kitschige Worte. Eva betrachtete Karola und Lena. Lena hatte den Arm um Karola gelegt, sehr besitzergreifend, sehr selbstbewusst. So, genau so, hatte Karola früher den Arm um sie gelegt. Eva kannte das Gefühl von Wärme, das man fühlt, wenn man von jemand anders den Arm um die Schulter gelegt bekommt, so ganz offen, vor allen anderen, so selbstverständlich. Es tat weh, das zu sehen. Wussten denn die, die das taten, die ihre Vertrautheit miteinander demonstrierten, nicht, wie weh das den anderen tat? Denen, die niemand hatten, die allein waren, ohne Nähe, ohne jemanden, den man unbefangen anfassen konnte, wenn man wollte.