Eva ging ins Badezimmer und riegelte hinter sich ab. Sie stützte sich mit den Händen auf das kalte Porzellan des Waschbeckens und schaute in den Spiegel. Sie betrachtete ihren Mund. Von der Schminke war nicht viel übrig, ein kleiner, verwischter Rest im Mundwinkel. Sie sah aus wie sonst. Sie wunderte sich darüber, dass er keine Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen hatte. Er. Michel.
Sie nahm die Zahnbürste in die Hand, drückte Zahnpasta darauf, zögerte und spülte die Zahnpasta wieder ab. Heute nicht. Sie wollte die Erinnerung nicht wegwaschen.
Dann band sie sich die Haare wieder zusammen und ging ins Bett. Die Mutter, neugierig, verschwörensch, öffnete die Tür und fragte:»Na?«
«Schön war's«, antwortete Eva.»Aber ich bin jetzt müde. Ich will schlafen.«
Eva stieg die Treppe hinauf, unendlich viele Stufen hatte die Treppe. Oben stand Michel und schaute zu ihr herunter. Oder war es Karola? Karolas Körper mit Michels Gesicht? Als sie näher kam, die Beine schleppten schon, zerfiel Karola-Michel, zerfiel in kaleidoskopartige Stückchen. Eva schloss die Augen. Auf Händen und Füßen kroch sie weiter die Treppe hinauf. Endlich wagte sie, die Augen wieder zu öffnen. Dort oben stand Michel, viel weiter oben jetzt. Er hatte ihr den Rücken zugedreht.»Michel«, rief sie.»Michel!«Er drehte sich um.»Komm nicht«, sagte er mit einer ganz fremden Stimme.»Geh zurück oder ich werde dich erstechen. «Jetzt erst sah Eva, dass er in der Hand einen Säbel trug. Die Klinge blitzte, als er ihn langsam hochhob. Eva schrie, drehte sich um und wollte die Treppe hinunterlaufen. Aber vor ihr war nur ein Loch, ein gähnendes, graues, endloses Loch. Das gibt es doch nicht, dachte Eva. Eine Treppe kann doch nicht plötzlich weg sein. Da fiel sie in das Loch, ein endloses Fallen war das. Die Angst drückte ihr die Luft ab und erstickte ihren Schrei. Das Blut hämmerte in ihrem Kopf, und in dem Moment, als sie dachte, jetzt, jetzt schlage ich auf, jetzt werde ich sterben, jetzt, jetzt, in diesem Moment wachte sie auf, merkte, dass sie in ihrem Bett lag, und fing vor Erleichterung an zu weinen. Im Kühlschrank war noch eine Schüssel Pudding. Schokoladenpudding.
9
Sonntag. Eva hasste diese Sonntage, die immer gleichen Sonntage, die sich fast nur durch Regen, Sonne, Schnee und Wind unterschieden und gelegentlich durch einen Kinobesuch. Sie hasste sie noch mehr als die Wochentage, an denen sie wenigstens die Hoffnung haben konnte, dass irgendetwas passierte, dass jemand mit ihr sprach oder dass Franziska ihre Hand auf ihren Arm legte und ihr etwas erzählte. Sonntag, das hieß Lernen, um die Langeweile zu übertönen, englische Vokabeln gegen das Gedudel von Bayern drei, mathematische Gleichungen gegen den rülpsenden Sonntagsfrieden.
Zum Frühstück saß die Familie um den Tisch, um die dampfende Kaffeekanne und den Sonntagskuchen. Mutter im geblümten Morgenrock, steif, Nylon, dunkelrote Röschen auf rosa Grund, und der Vater, noch nicht rasiert, mit dunkelblauem Bademantel über dem Schlafanzug, blauweiß gestreift.
«Einen guten Kuchen hat unsere Mama wieder gebacken«, sagte der Vater und die Mutter schaute auf ihren Teller und antwortete:»Ein bisschen braun ist er geworden. Ich hätte den Herd fünf Minuten eher ausmachen sollen. «Oder sie sagte:»Die Käsefüllung ist ein bisschen zu feucht. Die Unterhitze im Herd funktioniert nicht mehr so richtig.«
«Nein, Marianne«, widersprach der Vater.»Der Kuchen ist wirklich gut. Nicht wahr, Kinder?«
Eva und Berthold stopften den Kuchen in sich hinein und murmelten mit vollem Mund» besonders gut«, wie jeden Sonntag.
Um halb zwölf Aufbruch der ganzen Familie zum Mittagessen bei Oma.»Wir halten das Familienleben hoch«, hatte die Mutter zur Schmidhuber gesagt.»Ich sage immer, es gibt nichts Wichtigeres für Kinder als ein gutes Familienleben. Und dazu gehört, dass wir jeden Sonntag bei den Eltern meines Mannes zu Mittag essen. «Und die Schmidhuber hatte genickt und gesagt, wenn alle Familien so intakt waren, gäbe es weniger Jugendkriminalität. Eva hätte am liebsten laut geschrien.
Alle waren ordentlich angezogen und gekämmt. Fingernägelkontrolle. Evas Fingernägel waren immer sehr kurz geschnitten, bis zur Fingerkuppe musste sie sie herunterschneiden, um die zerbissenen und zerfransten Ränder wieder glatt zu bekommen.
Berthold, mürrisch, schlecht gelaunt, erwischte noch schnell eine Ohrfeige, sonntags, beim Aufbruch, weil er lieber Fußball gespielt hätte drüben in den Anlagen, mit seinen Freunden, und es nicht schaffte, wortlos zu verzichten, schweigend seinen Wunsch zu unterdrücken.
«Aber Fritz, doch nicht am Sonntag!«, sagte die Mutter.
«Wenn er es aber verdient hat!«, antwortete der Vater.
Bei schönem Wetter gingen sie zu Fuß, nur wenn es regnete, nahmen sie das Auto.»Das tut gut nach einer Woche im Büro«, sagte der Vater und dehnte seine Schultern, ging mit federnden Schritten, ein stattlicher Mann, durch die sonntäglich leeren Straßen. Von der Anlage drüben hörte man das Geschrei der Buben:»Toooor!«Berthold drehte den Kopf zur Seite. Auf seiner Backe sah man noch die rötlichen Spuren der Ohrfeige.
Eva trottete hinter den anderen her. Sie ging nicht gern zur Oma. Noch nie war sie gern zur Oma gegangen.
Sie erinnerte sich noch genau, wie das damals war, als sie bei Oma gewesen war. Als Mama im Krankenhaus gewesen war.»Evachen hier «und» Evachen da «und der Geruch von Putzmitteln überall.»Räum auf, Evachen. Ein braves Mädchen isst seinen Teller leer. Ein braves Mädchen räumt seine Spielsachen weg. Ein braves Mädchen gibt der Oma ein Küsschen. «Eva hatte nur noch auf den Vater gewartet.
Sie war schon fünf gewesen bei Bertholds Geburt, sie erinnerte sich an die Freude des Vaters, die laute, aufgeregte Stimme.»Stellt euch vor, ein Junge! Es ist tatsächlich ein Junge. «Das Lachen des Vaters war anders, ganz anders als das Lachen, das er für Eva hatte. Sie hatte zu ihm gehen wollen, sich in seine Arme werfen, hatte den ganzen Tag schon darauf gewartet, dass er kommen würde, der Vater, dass er sie auf seine Knie heben würde, hatte darauf gewartet, dass er sie kitzeln würde, bis sie kreischen müsste vor Lachen, bis ihr Bauch hart würde und fast wehtäte, aber nur fast. Auf diese schmale Kippe zwischen Lust und Schmerz hatte sie gewartet.
Und dann war er da und er sah sie nicht.»Ein Junge«, sagte er.»Stellt euch vor, es ist ein Junge. «Eva war noch einen Schritt auf ihn zugegangen, hatte die Arme nach ihm ausgestreckt. Er hatte sie nicht bemerkt.»Und was für einer. Acht Pfund wiegt er.«
Die Oma hatte die Hände zusammengeschlagen, na so was, endlich ein Junge, war an den Küchenschrank gegangen, hatte die obere Tür aufgemacht, die Glastür, an die Eva damals noch nicht drankam, die Oma hatte sich gereckt und eine Flasche herausgeholt. Der Rock war ihr hochgerutscht und Eva hatte den Wulst gesehen, diesen Strumpfwulst über Omas Knien. Sie rollte die Strümpfe immer über den Knien zu einem Wulst, der dann mit einem Gummiband gehalten wurde. Über dem braunen Wollstrick waren Omas Beine sehr weiß, wie Hefeteig sah die Haut aus, wie der Teig, der in einer Schüssel unter einem sauberen weißen Küchenhandtuch blasig aufgegangen war.
Sie hatten am Küchentisch gesessen, der Vater hatte das kleine Gläschen ein paar Mal leer getrunken, die Oma hatte ihm nachgeschenkt, der Vater hatte mit rotem Gesicht gelacht, ja, ein Junge, und die Oma hatte gesagt:»Das war auch damals, bei deiner Geburt, eine Freude, das kannst du dir gar nicht vorstellen«, und hatte dem Vater die Hände getätschelt.
Und Eva hatte dabeigestanden und die Tischdecke angestarrt, blauweiße Karos, Eva hatte angefangen, sie zu zählen, die Karos, bis zehn konnte sie zählen damals. Auf einem weißen Karo war ein grüner Fleck gewesen, Spinat vom Mittagessen.»Spinat ist gesund«, hatte Oma gesagt. Eva mochte keinen Spinat.
«Berthold soll er heißen.«
Eva war ganz leise hinübergegangen in das Schlafzimmer, hatte sich m Omas Bett gelegt, die riesige, weiße Zudecke über sich gezogen, weiß mit eingesticktem Monogramm, EM, E, weil Oma Elfriede hieß, und M, weil sie, bevor sie den Opa heiratete, Müller geheißen hatte.