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«Du musst versuchen, ihn zu verstehen«, sagte die Mutter.»Er ist halt so.«

«Immer soll ich ihn verstehen! Immer ich! Geh doch zu deinem geliebten Fritz! Geh nur. Du verstehst ihn ja so gut.«

Die Mutter sagte nichts mehr. Dann verließ sie das Zimmer. Eva hörte die Tür klappen. Ihr lautes Weinen ging in ein rhythmisches Schluchzen über, langsamer, beruhigender. Sie vergrub sich in das Kopfkissen. Ihr Gesicht brannte und fühlte sich verquollen an. Weinen, weinen, nur noch weinen. Michel. Nichts verstand der Vater, gar nichts. Nie hatte er irgendetwas verstanden.

«Scheiße! Scheiße!«

11

Eva starrte aus dem Klassenfenster. Ihre Augen brannten. Sie fühlte die Tränen hinter ihren Augen, in den Höhlen fühlte sie den Druck der Tränen. Sie erhob sich und ging zum Lehrertisch.»Kann ich bitte an die frische Luft gehen, mir ist schlecht.«

Frau Wittrock nickte.»Natürlich, Eva.«

Eva ging wie auf Watte, aus dem Klassenzimmer hinaus, die Treppe hinunter zum Klo. Sie beugte sich tief über die Kloschüssel, stützte sich mit den Händen auf der Brille ab und erbrach den Käse und die Sardinen in Dillsoße, den Rest Grießauflauf und die beiden Früchte Joghurts, die sie in der Nacht gegessen hatte, als sie verschwitzt und dreckig aufgewacht war, noch in Rock und Bluse, die ihr am feuchten Körper klebten. Sie erbrach, bis nur noch gelbliche, bittere Flüssigkeit kam. Sie lehnte sich an die Wand und wischte sich die Schweißtropfen aus dem Gesicht und die Tränen.

Franzlska führte sie zum Waschbecken und drehte den Wasserhahn auf.»Frau Wittrock hat gesagt, dass ich mit dir gehen könnte.«

Eva hielt ihr Gesicht unter das kalte Wasser, ließ es über die heißen Augen laufen und spülte sich den Mund aus. Es ging ihr viel besser.»Ich muss etwas Falsches gegessen haben«, sagte sie.»letzt ist es vorbei.«

Franziska nahm ein Papierhandtuch, machte es nass und bückte sich.»Du hast ein paar Flecken am Rock.«

Dann saßen sie unter einem Baum und tranken Tee aus Pappbechern, den Franziska aus dem Automaten geholt hatte.

«Wie lange darfst du abends wegbleiben?«, fragte Eva.

«Kommt drauf an. Eigentlich solange ich will.«

«Mein Vater hat mir gestern eine Ohrfeige gegeben, weil ich um halb zehn nach Hause gekommen bin.«

«Halb zehn ist doch nicht so spät.«

«Ich hatte nicht gesagt, dass ich später komme.«

«Na ja«, sagte Franziska,»wenn ich später komme, muss ich auch anrufen. «Und dann fragte sie:»Schlägt dich dein Vater oft?«

«Nein«, antwortete Eva.»Das letzte Mal hat er mir eine runtergehauen, als ich gesagt habe, die Oma sei eine alte Hexe.«

«Ist sie das?«

Eva schüttelte den Kopf.»Das nicht. Aber dumm ist sie.«

«Meine Eltern haben mich noch nie geschlagen«, sagte Franziska.»Auch nicht, als ich klein war.«

«Früher, als Kind, habe ich öfter eine Ohrfeige bekommen. Aber nur von meinem Vater. Und mein Bruder kriegt auch heute noch oft etwas ab.«

«Und deine Mutter? Was sagt die dazu?«

Eva lachte.

«Sie leidet mit uns. Für jede Ohrfeige gibt es mindestens eine heimliche Tafel Schokolade.«

«Gehst du oft weg abends?«

«Nein, ich war gestern das erste Mal tanzen. Und du?«

«Ich auch nicht. Ich kenne immer noch kaum Leute hier.«

Eva verzog das Gesicht.»Ich bin hier geboren und kenne trotzdem kaum jemanden. «Dann stand sie auf und klopfte sich den Staub aus dem Rock.»Sehe ich wieder ordentlich aus?«

«Ja«, antwortete Franziska.»Deine Haare sind viel schöner, wenn sie offen sind. Du hast wirklich tolle Haare.«

Eva schaute schnell zur Seite.»Komm, gehen wir wieder rauf.«

Eva lernte gerade: affligere, affligo, afflixi, afflictum, als Berthold ihre Tür öffnete.»Der Papa ist am Telefon«, sagte er.»Für dich.«

Eva ging ins Wohnzimmer und nahm den Hörer.

«Eva?«, fragte der Vater.

«Ja.«

«Ich bin zu der Telefonzelle an der Ecke gegangen, weil ich mit dir sprechen wollte.«

«Ja«, sagte Eva.

«Ich hatte gestern wirklich Angst, dass dir etwas passiert ist.«

Eva schwieg. Aus der Küche drang das Klappern von Geschirr.

«Eva«, sagte der Vater.»Die Ohrfeige gestern, die hätte ich dir nicht geben sollen.«

Eva presste den Hörer fest an ihr Ohr.»Ich hätte ja auch anrufen können«, sagte sie.

«Ja, hättest du.«

«Aber das ging nicht. Ich war in einer Diskothek tanzen. Das erste Mal.«

«War es schön?«

«Ja. Sehr.«

«Ich muss zurück ins Büro«, sagte der Vater.»Also, das nächste Mal rufst du an, ja? Bis später.«

«Bis später, Papa.«

Eva ging in die Küche.»Mama, soll ich für dich einkaufen gehen?«

Sie musste über das erstaunte Gesicht der Mutter lachen. Und sie lachte auch noch, als sie den schweren Einkaufskorb nach Hause trug. Sie fühlte sich so leicht, so schwebend, sie wurde nur durch das Gewicht der Kartoffeln, der Äpfel und des Mehls auf der Erde gehalten.»So schlimm ist er nicht, mein Vater. Das soll ihm erst mal einer nachmachen, extra zur Telefonzelle gehen und anrufen!«

Sie beschloss, abends von dem Sommerfest im Freizeitheim zu erzählen. Sie wollte unbedingt hingehen.

Vielleicht würde er es erlauben, heute, wo er so sanft war.

Eva hatte zum Abendessen fast nichts gegessen vor Aufregung. Der Vater war zwar sehr freundlich gewesen, als er von der Arbeit gekommen war, hatte seinen Rundgang, den Kontrollgang, schnell und ohne v Meckern hinter sich gebracht, aber man konnte nie wissen!

«Bis zehn geht es am Samstag im Freizeitheim«, sagte Eva.»Und dann muss ich noch heimfahren. Vor elf kann ich nicht zurück sein.«

«Kommt nicht in Frage, dass du so spät allein durch die Gegend fährst.«

«Aber Fritz, bald sechzehn ist sie schon.«

«Ich bin kein kleines Kind mehr«, sagte Eva.

«Das weiß ich. Das habe ich in der letzten Zeit schon öfter hören müssen. Aber ich lasse meine Tochter nicht abends allein durch die Stadt fahren. Ich hole dich ab.«

«Um Gottes willen, Papa! Wie sieht denn das aus? Was sagen denn da die anderen, wenn du mich abholst wie ein kleines Mädchen vom Kindergeburtstag!«

«Kein Wort mehr. Entweder ich hole dich ab oder du bleibst zu Hause. Was anderes kommt nicht in Frage. Lest ihr denn überhaupt keine Zeitung? Jeden Tag Mord und Totschlag. Und Vergewaltigungen.«

Eva heulte fast vor Wut.

«Fritz«, sagte die Mutter.»Man muss seinen Kindern auch Freiheit geben. Das steht in jeder Zeitung drin. In allen Illustrierten kannst du das lesen. Und die Leute, die das schreiben, verstehen was davon.«

«Du glaubst auch alles«, sagte der Vater böse.»Wie ich meine Kinder erziehe, lasse ich mir von niemand vorschreiben. Ich weiß selbst am besten, was gut ist für sie.«

«Aber Eva ist ein vernünftiges, anständiges Mädchen. Sie hat noch nie eine Dummheit gemacht.«

«Und das soll auch so bleiben. «Der Vater ging in das Wohnzimmer und gleich darauf hörte man die Stimme des Nachrichtensprechers.

«Gute Nacht«, sagte Berthold, der die ganze Zeit schweigend dabeigesessen hatte.

Die Mutter wandte sich dem Abwasch zu.»Dass es immer Krach geben muss.«

Eva verließ die Küche und knallte die Tür hinter sich zu.

Sie saß in ihrem Zimmer und malte wütend große, schwarze Striche auf ein Blatt Papier. Die Mutter kam mit einem Tablett herein.»Ich habe dir was zu essen gemacht. Du kannst doch nicht ohne Essen schlafen gehen.«

Auf dem Tablett stand neben Brot und Butter eine geöffnete Blechdose mit Lachs, zartrosa, ölglänzend.

«Echter«, sagte die Mutter.»Ich hatte ihn eigentlich für Papas Geburtstag gekauft. Aber jetzt bekommst du ihn. «Die Mutter griff in ihre Schürzentasche.»Hier ist auch noch eine Tafel Schokolade.«