Sie stellte das Tablett auf Evas Nachttisch.»Lass dich halt von ihm abholen«, sagte sie.»So schlimm ist das doch nicht.«
Eva schüttelte den Kopf.»Nein.«
«Ach Gott«, sagte die Mutter,»den Dickkopf hast du von ihm. «Sie legte die Hand auf die Klinke.»Ich muss jetzt rüber, sonst wird er böse.«
Eva legte eine Kassette ein, Simon und Garfunkel, Bridge over troubled water, rollte ihre Zudecke als Rückenstütze zusammen und stellte das Tablett neben sich auf das Bett. Dann fing sie an, sich ein Brot zu schmieren.
Echter Lachs ist zu schade für Brot, dachte sie. Viel zu schade. Ich werde ihn nachher so essen.
Sie schmierte die Butter sehr dick. Butter, ganz kalt aus dem Kühlschrank, auf weichem Brot, das war etwas Gutes. Sie aß zuerst rundherum die Rinde ab, dann machte sie sich an das weiche Innenstück. Sorgfältig schob sie vor dem Abbeißen die Butter mit den Zähnen nach hinten, bis sie nur noch ein kleines rundes Stück übrig hatte, mit einem zahnspurigen Butterwall drum herum. Sie betrachtete es lange, bevor sie es in den Mund steckte. When evening falls so hard, I will comfort you. Vll take your pari. Die Männerstimme klang sanft, weich, einschmeichelnd. Eva kaute. Wenn ich achtzehn bin, dachte sie, dann ziehe ich aus. Noch zwei Jahre und drei Monate. Und wenn ich von Was-ser und Brot leben muss! Sie strich Butter auf die zweite Scheibe. Ein Zimmer würde sie haben, nur ein ganz kleines natürlich. Und sie würde Nachhilfestun- den geben, um die Miete bezahlen zu können. Zwanzig Mark würde sie sicher für die Stunde bekommen. Mathe und Englisch konnte sie gut genug und auch in Französisch würde es für die Unterklassen reichen. Viel Geld würde sie nicht haben, natürlich nicht. Aber niemand würde ihr Vorschriften machen. Freiheit. Sie schob sich eine Scheibe Lachs in den Mund. Freiheit. Ein Wort, das wild und schön in ihren Ohren klang, wie Abenteuer und große, weite Welt. Wie zart der Lachs doch war. Er zerging einem ja richtig auf der Zunge. Echter Lachs! Geschieht dir ganz recht, dachte sie, als sie die zweite Scheibe langsam im Mund hin-und herschob. Geschieht dir ganz recht, dass ich ihn jetzt esse. Franziska darf abends so lange wegbleiben, wie sie will.
Vor der letzten Scheibe Lachs drehte sie die Kassette um. Es war zehn Uhr. Die Eltern gingen ins Bett. Sie hörte die Wasserspülung im Badezimmer. Automatisch drehte sie den Recorder leiser.»Gute Nacht«, rief die Mutter durch die Tür.»Gute Nacht, Eva.«
Eva antwortete nicht. Freiheit! Noch zwei Jahre, drei Monate und fünf Tage!
Sie nahm ein leeres Heft, ein Rechenheft, und schrieb auf die erste Seite ganz oben: Dienstag, L Juli, und darunter: Mittwoch, 2. Juli, dann Donnerstag, 3. Juli, dann den vierten und immer weiter. Nach fünf Seiten hörte sie auf. Sie war erst beim achten September. Morgen würde sie weitermachen oder übermorgen. Und jeden Tag würde sie einen Tag durchstreichen, wie bei einem langen Adventskalender. Der Gedanke gefiel ihr. Sie fing an, neben die Zahlen kleine Bildchen zu machen. Einen Stier neben den ersten Juli, einen schwarzen Stier mit erhobenem Schwanz und Dampfwölkchen aus den Nüstern. Einen runterhängenden großen Penis malte sie ihm noch hin. Das hatte sie mal gesehen, als sie bei Tante Irmgard zu Besuch war. Doch dann radierte sie ihn schnell wieder weg.
Morgen musste sie zur Schmidhuber, die würde ihr noch ein neues Kleid nähen für Samstag.»Ein Sommerkleid ist ja schnell gemacht«, hatte die Mutter gesagt.»Wir gehen gleich nach dem Essen zum Kaufhof wegen Stoff. «Eva malte ein Sommerkleid neben den zweiten Juli. Übermorgen würde sie Michel treffen, um drei am Brunnen. Sie zeichnete ein Herz, suchte ihre Filzstifte und malte es rot an. Außen herum schrieb sie ganz klein: Amo te, ama nie! Ich liebe dich, liebe mich! Das stand auf einem Ring, den man bei einer Ausgrabung gefunden hatte, hatte der Lateinlehrer erzählt. Und neben den Samstag setzte sie auch ein rotes Herz. Sie würde hingehen, und wenn sie ausreißen müsste. Entschlossen klappte sie das Heft zu und steckte es in ihren Ranzen.
Im Bett dachte sie noch einmaclass="underline" Zwei Jahre, drei Monate und fünf Tage. Sie sagte das Wort:»Freiheit«, und ließ es mit einem Stück Schokolade auf ihrer Zunge zergehen.
Freiheit. Freiheit!
12
Eva hatte einen braunbeige gestreiften Stoff gewählt.»Etwas Auffallendes kannst du nicht tragen«, hatte die Mutter gesagt,»aber etwas Frischeres, Kräftigeres sollte es schon sein. Schau mal der Rote da, ein ganz modernes Muster,«
«Nein«, hatte Eva beharrt.»Dieser da.«
«Na ja, wie du willst. Er Ist aber ziemlich teuer. «Aber sie hatte ihn gekauft.»Vielleicht hast du Recht. Streifen strecken.«
Bei der Schmidhuber saßen sie dann um den großen Wohnzimmertisch herum und blätterten in Modeheften. Es gab selbst gemachte Kekse und Limo. Die Mutter und die Schmidhuber benahmen sich so aufgeregt, als gingen sie selber zum Tanzen.
«Mein Gott, Renate, weißt du noch, wie wir früher rumgelaufen sind, in was für Fähnchen!«
«Es gab noch nicht so viel«, sagte die Schmidhuber.»Das Geld hat nicht gereicht für viele Kleider.«
«Aber schön war's doch!«
«Hier«, sagte Eva und deutete auf ein einfaches Sommerkleid mit kurzen Ärmeln und rundem Ausschnitt.»So ein Kleid hätte ich gern. Kannst du das machen?«
Aber natürlich, Evachen. Wenn du das willst! Sollen wir nicht noch weiter suchen?«
«Nein. So eines hätte ich gern.«
Eva half der Schmidhuber beim Tischabräumen. Die Schmidhuber legte den Schnittmusterbogen mit dem Gewirr von Linien auf den Tisch und ein durchsichtiges Papier darüber.»Dass du dich da zurechtfindest!«, sagte Eva.
Die Schmidhuber lachte.»Gelernt ist gelernt«, sagte sie.
Bevor sie den Schnitt auf den Stoff übertrug, verglich sie Evas Maße mit den angegebenen und zeichnete an der Hüfte noch ein paar Zentimeter dazu. Eva war ihr dankbar, dass sie nicht wie sonst gesagt hatte: Du bist ja wieder dicker geworden.
«Wenn ich noch mal so jung wäre«, sagte die Mutter,»würde ich alles anders machen.«
«Wie denn?«, fragte Eva.
«Ich weiß nicht«, antwortete die Mutter.»Anders. Ich würde nicht mehr so früh heiraten.«
«Aber du hast es doch ganz gut getroffen«, warf die Schmidhuber ein und fing an, den Stoff zu zerschneiden.»Dein Mann ist fleißig und häuslich und schaut nicht nach anderen Frauen. Und zwei gute Kinder hast du.«
Eva biss die Zähne zusammen.
«Ja. Ja. Man muss dankbar sein dafür«, sagte die Mutter.»Da hast du Recht. Aber trotzdem…! Die Tage gehen vorbei, und ehe du dich versiehst, ist wieder ein Jahr um. «Sie wischte sich mit der Hand über die Augen.
Freiheit, dachte Eva. Freiheit, Freiheit, Freiheit! Und sie steckte sich noch einen selbst gebackenen Keks in den Mund. Er schmeckte sehr gut.
«Evachen, wenn du auf mich hörst, dann lernst du so einen Beruf, dass du nie auf einen Mann angewiesen bist. Auf sein Geld, mein ich«, sagte die Schmidhuber.
Eva lachte.»Das mach ich, Tante Renate«, sagte sie. Die Mutter warf ihr einen erstaunten Blick zu. Eva grinste. Die Mutter lächelte ein bisschen traurig.»Tante Renate hat ganz Recht, Eva.«
Als das Vorderteil und der Rücken zusammengeheftet waren, musste Eva anprobieren. Schnell schlüpfte sie aus Rock und Bluse und schnell zog sie das neue Kleid über. Sie hatte den beiden Frauen den Rücken zugedreht.
Dann steckte und heftete die Schmidhuber an ihr herum, mit Stecknadeln zwischen den Zähnen und der Nähnadel mit dem Reihfaden an ihrer Bluse festgesteckt.
«Arme hoch, Evachen.«
«Ja, so ist's recht.«
«Dreh dich mal um.«
«Schau, Marianne, ich mach da am Rücken noch zwei Abnäher rein. Da sieht sie von der Seite schlanker aus.«
Dann legte sie die Stecknadeln zurück in die Schachtel.»So!«, sagte sie.»Jetzt kannst du in den Spiegel gucken.«