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«Ich brauche frische Luft.«

Sie setzten sich auf die Stufen, die vom Haus m den Garten führten. Im Garten war niemand. Auf den Tischen standen die Pappteller mit Senfresten, leere Limoflaschen, angebissene Semmeln.

Eva rückte näher zu Michel, ganz dicht an ihn heran.»Ich bin verschwitzt«, sagte sie,»ich stinke.«

«Nein, du stinkst nicht. «Michel legte seine Hand auf ihr Knie, schob sie weiter unter ihren Rock.

«Gehst du noch ein bisschen mit mir spazieren?«Seine Stimme war so leise, dass Eva ihn kaum verstehen konnte. Er legte seinen Kopf an ihre Schulter. Eva schaute hinauf in den Himmel und die Welt war voller Sterne. Seine Hand, dachte sie. Wenn uns jemand sieht.

«Was macht denn unser Kleiner da?«, fragte Frank.

Eva zuckte zusammen. Es gab keine Sterne mehr auf der Welt. Michel hatte seine Hand zurückgezogen.

«Hau ab, Frank.«

«Wie redest du denn mit mir? Bist du verrückt geworden? Geh halt mit deiner Puppe woandershin, wenn du sie aufs Kreuz legen willst.«

«Nimm dich in Acht!«Michel war aufgesprungen und starrte seinen Bruder wütend an. Frank stand da, die Daumen m den Schlaufen seiner Jeans eingehakt, breitbeinig.

Eva wich Michels Blick aus. Sie machte ein paar Schritte seitwärts in den Garten, hinein in den Schutz der Dunkelheit. Ein Junge mit einer Lederjacke trat aus der Tür.»Was ist, Frank, ziehst du wieder eine Schau ab?«, sagte er.

Frank beachtete ihn nicht.»Wie machst du es denn mit ihr?«, fragte er Michel.»Kommst du überhaupt dran, wenn du auf ihr liegst?«

«Du alte Sau!«

«Werd nicht frech, Kleiner, sonst kannst du was erleben!«

«Probier's doch! Los, probier's doch mal!«Michels Stimme klang hoch und schrill. Frank, ohne die Arme zu bewegen, trat nach Michel.»Willst du deinem Fettkloß beweisen, was für ein toller Kerl du bist?«

Michel stürzte sich auf ihn, hämmerte wild mit den Fäusten auf ihn ein. Eva stand erstarrt. Ihr Mund öffnete sich, aber sie schrie nicht. Sie sah, dass auf einmal einige Jungen und Mädchen in der Tür standen und dem Kampf zuschauten.

«Mensch, Frank, hör auf zu spinnen!«, rief einer.

«Los, Michel, zeig's ihm!«, drängte ein anderer.

Plötzlich hatte Frank ein Messer in der Hand.

«Nein!«, schrie Eva.»Nein, nein!«Hatte sie laut geschrien? Panik erfasste sie. Sie wollte sich auf die Kämpfenden stürzen, aber sie konnte sich nicht rühren. Die anderen, die in der Tür, hatten weiße Gesichter, weiß mit dunklen Löchern dann. Jemand schob Michel einen Stuhl zu, der Junge, der vorher» Zeig's ihm «gesagt hatte.

Michel nahm den Stuhl an zwei Beinen, hielt ihn hoch über seinem Kopf, machte zwei staksige Schritte auf Frank zu und schlug mit dem Stuhl auf ihn ein. Eva schloss die Augen. Als sie sie wieder aufmachte, lag Frank auf dem Boden. Aus einer Wunde an seinem Kopf lief Blut und verklebte die langen Haare zu Strähnen, zu rötlich braunen, hässlichen Strähnen. Michel stand da, noch immer den Stuhl in den Händen, und starrte auf seinen Bruder.»Nein«, wiederholte er immer wieder,»nein, nein! Das nicht!«

Ein Junge mit einem silbernen Kreuz um den Hals nahm Michel den Stuhl aus der Hand und trug ihn zurück ins Zimmer. Die anderen machten ihm schweigend Platz. Dann war Ilona da, setzte sich neben Frank und nahm seinen Kopf auf den Schoß. Sie wiegte ihn hin und her, wie eine Puppe, und Tränen liefen über ihr Gesicht. Ihr Kleid war hochgerutscht, ihre Oberschenkel waren dick und weiß in dem Licht, das aus der offenen Tür fiel.

«Ilona, nicht! Frank muss ganz ruhig liegen. «Petrus hatte sich gebückt und hielt den Kopf des Jungen. Ilona schaute ihn mit großen Augen an. Jemand kam und zog sie weg.

«Reiner, ruf den Notarzt an«, sagte Petrus.

Ein Junge ging zurück in das Haus. Niemand sagte ein Wort. Auch als der Notarzt kam, mit Martinshorn und Blaulicht, wurde nicht viel gesprochen.

«Frank Weilheimer heißt er, ja.«

«Nein, wir haben nichts gesehen. Wir waren beim Tanzen.«

«Er muss gestürzt sein.«

«Ja, so wird es gewesen sein.«

Die anderen standen um Michel herum, der mit aufgerissenen Augen zusah, wie Frank auf eine Trage gehoben und zum Wagen gebracht wurde.

«Wenn du nur nicht gekommen wärst…!«, sagte Ilona zu Eva.

Alle halfen, das Haus aufzuräumen. Petrus brachte Michel und Ilona nach Hause, war aber bald wieder zurück.

«Schluss mit der Feier«, sagte er.

Niemand antwortete ihm.

Eva sammelte gerade die Pappbecher ein, die überall herumlagen, als ihr Vater kam.

«Sehr fröhlich seht ihr ja nicht aus«, sagte er.

Eva fing an zu weinen.»Hat dir jemand etwas getan?«, fragte der Vater. Er sah groß und stark aus und sehr besorgt. Eva lehnte sich an ihn. Er legte den Arm um sie.»Hat dir jemand etwas getan?«, fragte er noch einmal. Eva schüttelte den Kopf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Nein, niemand hatte ihr etwas getan. Nichts war geschehen, nein. Eva drückte ihr Gesicht an seinen Ärmel. Der Geruch war vertraut und tröstend. Nein, es war nichts.

«Es hat einen Unfall gegeben«, erklärte Petrus dem Vater.»Ein Junge ist gestürzt.«

Eva weinte, den Kopf in die Kissen vergraben, mit heißem, verquollenem Gesicht.»Willst du deinem Fettkloß beweisen, was für ein toller Kerl du bist?«Und dann Frank, auf dem Boden liegend, Ilona, die seinen Kopf wiegte, Ilona, die sagte:»Wenn du nur nicht gekommen wärst…!«

Eva spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog. Ich Fettkloß! Meinetwegen ist das passiert, nur meinetwegen. Und Michel? Warum war er nicht einfach weggegangen? Frank hatte ein Messer in der Hand, es blitzte im Lichtschein.

Eva, mit kribbelnden Wangenmuskeln und vorgeschobenem Unterkiefer, erreichte gerade noch das Badezimmer, beugte sich über das Waschbecken und würgte, würgte alles heraus, bis ihr Bauch sich zusam-menkrampfte. Sie drehte den Kaltwasserhahn auf und ließ das Wasser über ihr Gesicht und ihre Hände laufen, spülte das Erbrochene weg, wischte so lange, bis nur noch der säuerliche Geruch übrig blieb.

Sie fühlte eine große Leere in sich, ein riesiges Loch, hohl war sie, ausgehöhlt, schmerzhaft ausgehöhlt.»Mir tut der Magen weh, weil er so leer ist. «Ein tröstlicher Gedanke, dass sie etwas gegen die schmerzende Unlust tun konnte.

Sie aß eine trockene Scheibe Weißbrot, ganz langsam aß sie, kaute lange, um ihren armen, gepeinigten Magen zu schonen. Das trockene Brot kratzte in ihrem Hals. Sie wärmte sich Milch, aß ein Butterbrot dazu, dann noch eines, Salami war im Kühlschrank und Mil~ kana Schmelzkäse, zwei Ecken waren noch da. Die Schmerzen in ihrem Bauch ließen nach, sanft wurde ihr Magen, ganz sanft und voll. Sie schlich in ihr Bett zurück.

Es gab kein Problem außer diesem Problem, dem Problem der Probleme. Der Speck war es, diese widerliche, weiche Wabbelschicht, die zwischen ihr und ihrer Umwelt stand, Stoßdämpfer und Kokon, Polster und Eisenring. Nur der Speck war schuld. Speck bedeutete Traurigkeit, Abseitsstehen, Abgelehntwerden, bedeutete Spott, Angst, Scham.

Eingebettet in Speck verbarg sie sich, sie, die wahre Eva, die eigentliche Eva, so wie sie sein sollte: unbelastet von der Last des Fettes, leicht-lebig, hebens-wert.

Eingesperrt in dieser Fettschicht war sie, die wirkliche Eva, die nicht ständig an Essen dachte, an Nahrung und Füllstoff, die nicht so beschämend heimlich über alles Essbare herfiel und es in sich hineinfraß wie eine Maschine, wie ein Bagger, alles, egal was, und so lange, bis nichts mehr da war.

Eingepfercht in diesen Kokon lebte die andere Eva, die, die keine Gier kannte, kein wahlloses Mampfen, Schlingen, Schlucken, Würgen.

Eines Tages, an irgendeinem Tag, würde der Speck in der Sonne schmelzen, ein ganzer Fettbach würde in den Rinnstein fließen, eine widerliche, stinkende, ölige Flüssigkeit, und übrig blieb sie, die andere Eva, die schwerelose, heitere, wirkliche Eva. Die glückliche Eva.