14
Um drei Uhr saß Eva montags am Brunnenrand, die Haare straff nach hinten gekämmt, mit einer Spange gehalten.
Michel kam nicht.
Seltsam, dass die Sonne scheint, dachte sie. Es müsste regnen. Es müsste grau sein. Die Bäume sollten sich biegen im Wind und kein Vogel sollte singen dürfen.
Sie zog sich ihre Sandalen aus und ging barfuß über den Kiesweg. Die kleinen Steinchen stachen und piekten in ihre weichen Fußsohlen. Das ist gut, dachte sie. Sie versuchte, sehr fest aufzutreten, so fest, dass der Schmerz sie zwang, die Zähne zusammenzubeißen.»Es tut weh«, sagte sie leise vor sich hin, rhythmisch, zu jedem Wort ein Schritt.»Es-tut-weh-es-soll-wehtun-es-muss-wehtun-es-geschieht-mir-recht-dass-es-wehtut.«
Durch den Park ging sie, bis auf die andere Seite, bis zum Gartencafe, und dann wieder zurück. Michel war nicht da. Ihre Beine waren schwer wie Blei.
Sie zog ihre Sandalen wieder an und ging in Richtung Bahnhof. An der großen Buchhandlung blieb sie stehen, zögerte, sie musste sich überwinden hineinzugehen.
«Kann ich Ihnen was helfen?«, fragte eine junge, sehr schlanke Buchhändlerin.
«Danke«, sagte Eva.»Ich schaue nur.«
Dann stand sie vor einem Regal mit Diätbüchern, Büchern zum Abnehmen, Gewichtsreduzierung. Gesünder leben.
Sie nahm ein Buch heraus und blätterte darin herum. Brot in Kalorien und Joule, Joghurt in Kalorien und Joule, ein mageres Steak (150 g) in Kalorien und Joule.
Eva drehte sich um. Sie fühlte sich beobachtet. Aber da stand nur die Buchhändlerin, die schlanke.»Brauchen Sie etwas?«
Eva schüttelte den Kopf, legte das Buch zurück in das Regal und nahm, ohne hinzusehen, ein anderes.»Das möchte ich haben.«
Zu Hause setzte sie sich an den Schreibtisch und fing an zu lesen. Bis abends wusste sie ganze Kalorientabellen auswendig, gelernt wie Vokabeln. Ich bin schuld, weil ich so dick bin. Ich bin an allem schuld, weil ich mich nicht beherrschen kann. In welchem Krankenhaus war Frank? Tausend Kalorien am Tag, nicht mehr. Warum war Michel denn nicht gekommen? Was war mit Frank?
«Eva! Abendessen!«, rief die Mutter. Zwei Scheiben Toast mit Butter und Lachsschinken, selbst wenn man die Butter dünn streicht, sind fünfhundert Kalorien.
«Ich habe keinen Hunger«, sagte Eva.»Ich mag heute nichts.«
«Wieso denn?«, fragte die Mutter.»Bist du krank?«
Mama, kann ich dir trauen? Bist du verschwiegen?
Nein, lieber nicht. Eva hatte Angst vor peinlichen Bemerkungen.»Lass nur, es gibt Männer, die haben ganz gern was in der Hand.«
«Ich bin nicht krank«, sagte sie zu ihrer Mutter.»Ich habe ganz einfach keinen Hunger.«
Die Tage vergingen quälend langsam. Aufstehen, sich anziehen, beim Frühstück die vorwurfsvollen Blicke der Mutter, wenn Eva nur schwarzen Kaffee trank. Sie schmierte sich, um diese Blicke zu beschwichtigen, extradicke Brote für die Schule, drei doppelte, die sie dann an der nächsten Straßenecke in einen Papierkorb werfen würde. Sie fastete.
Franziska fragte:»Bist du krank?«
«Nein«, antwortete Eva, erklärte das Knurren ihres Magens mit einer plötzlichen Übelkeit, irgendein Virus wird es wohl sein. Franziska legte ihr tröstend die Hand auf den Arm. Ihre Hand war warm und angenehm, mit weichen, trockenen Handflächen. Obwohl Eva fröstelte, trotz der Wärme des Sommertages fröstelte sie, waren ihre Handflächen feucht.
Wenn die Gier nach Essen sie überfiel, wenn sich ihr Magen während des Unterrichts schmerzhaft zusammenzog, brauchte sie sich nur ein bisschen zurückzulehnen und ihre Oberschenkel mit denen von Franziska zu vergleichen. Franziska, immer in Hosen, mit schmalen Beinen, die Knie fast mager, und dagegen sie: Knie wie Dampfnudeln, über die der Rock hochrutschte beim Sitzen, Wülste oberhalb der Knie, Fettwülste.
Wulst, Wülste. Was für ein hässliches Wort. Ein Wort zum Ekeln.
Die Vormittage waren schlimm, aber die Nachmittage waren noch schlimmer. Beim Mittagessen sagte sie, sie hätte keinen Hunger, sie sagte, sie hätte die Schulbrote, die drei doppelten, erst auf dem Heimweg gegessen.
Dann ging sie zum Park, wartete auf Michel, wusste, er würde nicht kommen, hoffte, er würde doch kommen.
Aber warum sollte er? Sie war schuld an allem. Oder nicht sie, nicht die Eva, diese verdammte Fetthülle war schuld.
Um vier ging sie wieder nach Hause, zog sich in ihr Zimmer zurück, lernte wütend und verbissen Vokabeln, um hinterher festzustellen, dass sie sie nicht konnte.
Vor dem Abendessen ging sie ins Bett.»Mir ist nicht gut, Mama, wirklich. Lass mich in Ruhe, bitte. Lass mich schlafen.«
Die Brote, die die Mutter ihr brachte, mit ängstlichem, besorgtem Gesicht,»Kind, was ist denn los mit dir?«, wickelte sie in eine Plastiktüte und versteckte sie in ihrer Schultasche. Die Brote würde sie am nächsten Morgen in den Papierkorb werfen, zusammen mit den Schulbroten. Sie weinte sich in den Schlaf.
Warum kam Michel nicht?
Eva hatte Schmerzen, quälende, durch nichts mehr zu unterdrückende Schmerzen. Ihr Magen tat so weh, noch nie hatte ihr etwas so wehgetan. Und in ihrem Bauch krampften sich die Därme, wie Messerstiche war das.
Sie nahm ein Buch und versuchte zu lesen, aber die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Schwarze Flecken tanzten auf dem Papier. Sie konnte nur noch an Essen denken, alles andere wurde unwichtig neben dem Verlangen, ihren Hunger zu stillen. Still werden, die Geräusche ihres Magens still werden zu lassen. Hunger tut weh.
«Ich will nicht essen«, dachte sie.»Ich will nicht.«
Vier Pfund hatte sie abgenommen in diesen vier Tagen, vier Pfund. Natürlich war das nicht besonders viel im Vergleich zu den zwanzig, die sie noch abnehmen musste, aber immerhin!
Sie legte das Buch weg und griff nach den Diättabellen.
l Scheibe Brot, 40 g, 100 Kalorien
5 g Butter, 38 Kalorien
100 g Salami, 526 Kalorien
100 g Gorgonzola, 410 Kalorien
l Tafel Schokolade, 536 Kalorien
Eva fror, obwohl die Sonne schien. Ihre Haut zog sich zusammen und ihr Kopf dröhnte. Sie ging in die Küche, wehrlos, hilflos ihrem Begehren ausgeliefert, ohne einen kleinen Rest Kraft zum Widerstand, und griff nach dem Brot, drückte den großen Laib gegen ihren Bauch und schnitt mit dem Messer, dem mit der gesägten Schneide, eine dicke Scheibe herunter. Sie legte die Brotscheibe auf ein Holzbrett und bestrich sie mit Butter, ganz dick.
«So dick brauchst du die Butter auch nicht zu schmieren«, sagte die Mutter.
«Lass mich, ich habe Hunger.«
Eva nahm den Salzstreuer, einen Porzellanfliegenpilz mit Löchern in dem weiß gepunkteten Hut, weiße Punkte auf rotem Hut. Ein Fliegenpilz ist giftig. Sie streute die hellen Kristallkörnchen auf die Butter.
«Soll ich dir nicht die Suppe warm machen?«, fragte die Mutter.
Eva antwortete nicht. Sie trug das Holzbrett in ihr Zimmer, legte es auf den Schreibtisch und setzte sich davor. Sie biss hinein in das Brot, riss den Bissen so heftig los, dass das Brot in ihrer Hand auseinander brach.
Was gibt es auf der Welt außer Kauen? Welche Weichheit lässt sich mit Butter vergleichen, kühler Butter auf frischem Brot? Welche Würze ist besser als Salz, nicht zu viel, nicht zu wenig? Es gibt kein Glück außer diesem: Kauen, das Brot im Mund zerkauen und runterschlucken und dabei das Brot in der Hand sehen, das Gefühl des Überflusses: Es gibt noch den nächsten Bissen, dann noch einen.
Der Hals tat ihr weh beim Schlucken und tief in ihr saß die Enttäuschung, das Versagthaben, Es-wieder-einmal-nicht-geschafft-Haben, und wurde zugedeckt mit diesem köstlichen Brei aus zerkautem Brot, Butter und Salz.
Die letzten Wochen vor dem Zeugnis. Jetzt war nichts mehr zu ändern, nichts konnte man mehr ausbügeln. Franziska war sehr still.»Ich schaffe es nicht«, sagte sie zu Eva.»Ich schaffe es einfach nicht. In Mathe kriege ich eine Fünf, und wenn ich die Wahrheit sagen soll, ist das noch geschmeichelt.«