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«Dafür bist du in Englisch doch so gut.«

«Aber nur in Englisch. Mein Vater sagt, ich sollte die Klasse freiwillig wiederholen, das wäre das Gescheiteste.«

Sie standen auf dem Schulhof. Das Geschrei um sie herum wurde plötzlich ganz laut, dröhnte in ihren Ohren, wurde so schrill, dass Eva nichts mehr wahrnehmen konnte außer diesem Geschrei, auch nicht mehr die leise Stimme neben ihr.

Und dann wusste sie, wie wichtig es ihr war, dass Franziska in der Klasse blieb, weiter neben ihr saß, morgens einfach da war und ihr die Hand gab.

«Nein«, sagte Eva.»Nein, du sollst nicht wiederholen.«

«Aber so geht es doch auch nicht weiter. «Franziska hakte sich bei Eva ein.»Ich bin einfach zu blöd für Mathe. Wenn ich es nur halb so gut könnte wie du!«

Eva zog Franziska in den leeren Gang zur Turnhalle.»Ich werde mit dir lernen«, sagte sie.»Dem Hochstein werden noch die Ohren schlackern, so gut wirst du in Mathe werden.«

«Wirklich?«

«Ja«, sagte Eva.»Wirklich. Ich werde mit dir lernen.«

Franziska, schlank, mit einem leichten Duft nach Flieder, legte ihre Arme um Evas Hals und gab ihr einen Kuss auf die Backe.»Du bist ein Schatz.«

Eva stand steif und unbeholfen unter dieser Berührung.

15

Michel kam am Freitag. Eva sah ihn schon von weitem.»Hallo, Eva.«

Sie setzte sich neben ihn und berührte seine Backe, eine dick geschwollene Backe mit einem bläulich violetten Bluterguss.

«Wer war das?«, fragte sie.

«Mein Vater. Wegen Frank. Unter Brüdern schlägt man sich nicht, sagt er.«

Eva schwieg.

«Ich bin froh, wenn ich endlich wegfahren kann. Am einunddreißigsten Juli. Um vierzehn Uhr sechzehn geht mein Zug.«

«Ja«, sagte Eva. Und dann:»Wie geht es Frank?«

«Es ist nicht so schlimm«, antwortete Michel.»Gehirnerschütterung. In zwei Wochen darf er wieder heim.«

«Willst du eine Cola?«

Michel nickte.

Sie gingen nebeneinander her, ohne sich zu berühren, setzten sich unter die Platane, an denselben Tisch wie beim ersten Mal, und bestellten Cola.

«Der Frank ist schuld«, sagte Michel.»Hast du sein Messer gesehen?«

«Ja.«

«Er läuft immer mit einem Messer herum. Jeder weiß das und jeder hat Angst davor, sich mit ihm anzulegen. Auch Petrus sagt das. Er war gestern Abend bei uns. Mein Vater wollte ihn erst nicht reinlassen. Er sagt, der Petrus ist schuld, er hätte auf uns aufpassen müssen. Dafür würde er bezahlt. Aber dann hat er doch mit ihm geredet. Deswegen durfte ich heute kommen.«

«Ich habe schon gestern und vorgestern auf dich gewartet.«

«Petrus hat gesagt, dass ich kommen muss.«

«Wärst du sonst nicht gekommen?«

«Ich weiß nicht. «Michel sah unglücklich aus.»Ich habe mich geschämt«, sagte er.

«Warum?«

«Ich weiß nicht. «Er sprach sehr langsam.»Wegen allem halt. Weil ich mich geprügelt habe. Und weil Frank im Krankenhaus ist.«

Eva bestellte noch zwei Cola.»Michel, warum bist du denn so wütend geworden? Warum hast du ihn nicht einfach stehen lassen und bist weggegangen?«

«Das hat mich Petrus auch gefragt.«

«Und was hast du ihm geantwortet?«

«Dass Frank dich beleidigt hat.«

Eva fühlte, wie sie ganz zittrig wurde innen, sie fühlte sich schwach und ihr Magen wurde zu einem Klumpen.

«Weil er gesagt hat, dass ich ein Fettkloß bin?«

Michel wurde rot, schaute auf sein Glas, nickte.

«Aber ich bin dick«, sagte Eva und der Klumpen in ihrem Bauch löste sich.»Ich bin ein Fettkloß. «Sie musste lachen.»Hast du das denn nicht gesehen, Michel?«

«Schon«, sagte er.»Natürlich habe ich es gesehen.«

Der Klumpen war ganz weg, ganz weich war ihr Bauch und angenehm warm. Eva legte ihre Hände auf den Tisch. Mit der linken Hand, die das Colaglas umklammert hatte, ganz dicht an ihrem Körper, schob sie das Glas weiter in die Mitte des Tisches, und die rechte, die sie vorher auf ihrem Schoß liegen gehabt hatte, fest zu einer Faust geballt, legte sie offen auf den Tisch, nahe zu Michels Händen.

«Trotzdem, den Frank geht es einen Scheißdreck an, ob du dick bist oder nicht.«

Er nahm ihre Hand.

Sie gingen am Fluss entlang.

«Bald fahre ich weg«, sagte Michel.»Es dauert nicht mehr lange.«

Eva nickte.»Schreibst du mir?«

«Natürlich. Du mir auch?«

Michel legte den Arm um sie. Eva lachte und schaute den Vorübergehenden direkt ins Gesicht.»Schaut her«, hätte sie am liebsten laut gerufen.»Schaut alle her! Ich habe jemand. Ich, die dicke Eva, habe einen Freund.«

Sie waren aus den Anlagen heraus, gingen am Ufer entlang, über Kies und moosbewachsene Steine. Ev£ ging langsam, vorsichtig. Sie wusste, "was kommer würde.

Sie trafen einen Angler, der reglos dastand und der rotweißen Schwimmer an seiner Angelschnur beobachtete, der weit draußen in der Strömung trieb.

Dann war niemand mehr.

Michel ging vor, bahnte den Weg durch das Buschwerk und hielt die Zweige zur Seite. Auf einer kleiner Lichtung setzten sie sich ins Gras. Eva pflückte einer Grashalm und kaute darauf herum. Er schmeckte bitter.

«Weiß deine Mutter, dass du bei mir bist?«, fragte Michel.

«Nein, sie denkt, ich wäre bei einer Freundin.«

Michel lachte.»Ich habe zu Hause auch nichts gesagt, wegen Ilona.«

«Meint sie immer noch, dass ich an allem schule bin?«

«Ja. Sie liebt Frank. Ich weiß auch nicht, warum.«

«Dich nicht?«

«Doch. Mich auch.«

Sie lagen nebeneinander im Gras, dicht nebeneinander.

Eva war wehrlos unter Michels Streicheln, seinen Atem an ihrem Hals, seinen Händen.

«Nein«, sagte sie.»Nicht.«

«Nicht«, sagte sie.»Noch nicht.«

Sie richtete sich auf.»Ich will nicht. Nicht jetzt.«

«Aber du bist doch mein Mädchen«, sagte Michel hilflos.»Ich bin dein Freund. Du brauchst doch keine Angst vor mir zu haben.«

Angst? War das Angst?

Sie nahm einen Käfer, der über ihr Bein krabbelte, vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger und setzte ihn zurück ins Gras. Dann streckte sie sich wieder neben Michel aus.

«Die Sonne blendet.«

«Jetzt nicht mehr. «Michel legte sein Gesicht über ihres. Eva hörte eine Hummel an ihrem Ohr vorbeibrummen. Sie küssten sich. Michels Augen waren nicht mehr so braun, um die Pupillen herum hatte er graugrüne Flecken. Wie lang seine Wimpern waren!

«Das mag ich«, sagte Eva.»Das schon: so mit dir zu liegen.«

Michel streichelte sie. Seine Hände! Eva lag mit geschlossenen Augen.»Du bist ein schönes Mädchen«, sagte Michel.

Das Dunkel war kein Dunkel. Vor ihren Augen zersprangen rote Kreise, sprühten Funken in violette Nebel.

«Nein«, sagte Eva.»Ich will das nicht. Nicht jetzt. Nicht so. Ich weiß nicht, warum, aber es macht mir Angst.«

Michel antwortete nicht. Sie stemmte ihre Arme gegen ihn. Er rutschte von ihr herunter. Er hatte die Arme um sie gelegt, drückte sich an sie, drängte von der Seite gegen ihr Bein. Wie ein Hund, dachte Eva erschrocken. Genau wie ein Hund.

Sie sah dieses nackte Gesicht, dieses fremde Gesicht, schutzlos, hilflos, mit geschlossenen Augen, sah die geöffneten Lippen, sah die Haut, gespannt über den Backenknochen, die etwas unregelmäßigen Zähne, die Eckzähne standen vor. Seine Nasenflügel waren sehr dünn und zitterten. Noch nie hatte Eva ein so nacktes Gesicht gesehen. Michel atmete sehr laut und schnell.

Eva fühlte plötzlich die Peinlichkeit dieser Situation, wollte sich entziehen, aber Michel umklammerte sie fest, vergrub sein Gesicht an ihrer Brust und stöhnte.