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Eva stand auf.»Ich hole mir noch einen Tee«, sagte sie. Sie wollte Franziska nicht verletzen, die Einzige, von der sie begrüßt wurde, wenn sie morgens in die Klasse kam.

Eva kam immer spät, im letzten Moment. An der Ecke Friedrichstraße/Elisabethstraße war eine Normaluhr, dort wartete sie immer, bis es vier Minuten vor acht war, um ja nicht zu früh anzukommen, um dem morgendlichen >Weißt-du-gestern-habe-ich< zu entgehen.

Der Tee schmeckte schal und süßlich. Er war nur heiß.

Eva stand vor dem Schaufenster des Feinkostladens Schneider. Sie hatte sich dicht an die Schaufensterscheibe gestellt, damit sie ihr Bild im Glas nicht sehen musste, eine verzerrte, verschwommene Eva. Sie wollte das nicht sehen. Sie wusste auch so, dass sie zu fett war. Jeden Tag, fünfmal in der Woche, konnte sie sich mit anderen vergleichen. Fünf Vormittage, an denen sie gezwungen war zuzuschauen, wie die anderen in ihren engen Jeans herumliefen. Nur sie war so fett. Sie war so fett, dass keiner sie anschauen mochte. Als sie elf oder zwölf Jahre alt gewesen war, hatte es damit angefangen, dass sie immer Hunger hatte und nie satt wurde. Und jetzt, mit fünfzehn, wog sie einhundertvier-unddreißig Pfund. Siebenundsechzig Kilo, und sie war nicht besonders groß.

Und auch jetzt hatte sie Hunger, immer hatte sie nach der Schule Hunger. Mechanisch zählte sie die Geldstücke in ihrem Portemonnaie. Vier Mark fünf-undachtzig hatte sie noch. Der Heringssalat kostete zwei Mark hundert Gramm. Im Laden war es kühl nach der sengenden Hitze draußen. Bei dem Geruch nach Essen wurde ihr fast schwindelig vor Hunger.

«Zweihundert Gramm Heringssalat mit Mayonnaise, bitte«, sagte sie leise zu der Verkäuferin, die gelangweilt hinter der Theke stand und sich träge am Ohr kratzte. Es schien einen Moment zu dauern, bis sie kapierte, was Eva wollte. Doch dann nahm sie den Finger von ihrem Ohr und griff nach einem Plastikbecher. Sie löffelte die Heringsstückchen und die Gurkenscheiben hinein, klatschte noch einen Löffel Mayonnaise darauf und stellte den Becher auf die Waage.»Vier Mark«, sagte sie gleichgültig.

Hastig legte Eva das Geld auf den Tisch, nahm den Becher und verließ grußlos den Laden. Die Verkäuferin fuhr fort, sich am Ohr zu kratzen.

Draußen war es wieder heiß, die Sonne knallte vom Himmel. Wie kann es nur im Juni so warm sein, dachte Eva. Der Becher in ihrer Hand war kalt. Sie beschleunigte ihre Schritte, sie rannte fast, als sie den Park betrat. Überall auf den Bänken saßen Leute in der Sonne, Männer hatten sich die Hemden ausgezogen, Frauen die Röcke bis weit über die Knie hochgeschoben, damit auch ihre Beine braun würden. Eva ging langsam an den Bänken vorbei. Schauten ihr die Leute nach? Redeten sie über sie? Lachten sie darüber, dass ein junges Mädchen so fett sein konnte?

Sie war an den Büschen angekommen, die die Bankreihe von dem Spielplatz trennten. Schnell drückte sie sich zwischen zwei Weißdornhecken hindurch. Die Zweige schlugen hinter ihr wieder zusammen.

Hier war sie ungestört, hier konnte sie keiner sehen. Sie ließ die Schultasche von der Schulter gleiten und kauerte sich auf den Boden. Das Gras kitzelte ihre nackten Beine. Sie hob den Deckel von dem Becher und legte ihn neben sich auf den Boden. Einen Moment lang starrte sie den Becher andächtig an, die graurosa Heringsstückchen in der fetten, weißen Mayonnaise. An einem Fischstück sah man noch die blausilberne Haut. Sie nahm dieses Stück vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger und steckte es dann in den Mund. Kühl war es und säuerlich scharf. Sie schob es langsam mit der Zunge hin und her, bis sie auch deutlich den dämpfenden, fetten Geschmack der Mayonnaise spürte. Dann fing sie an zu kauen und zu schlucken, griff wieder mit den Fingern in den Becher und stopfte die Heringe in den Mund. Den letzten Rest der Sauce schabte sie mit dem Zeigefinger heraus. Seufzend erhob sie sich, als der Becher leer war, und warf ihn unter einen Busch. Dann nahm sie ihre Schultasche wieder über ihre Schulter und glättete mit den Händen ihren Rock. Sie fühlte sich traurig und müde.

2

Eva klingelte unten am Hauseingang, zweimal kurz. Das tat sie immer. Ihre Mutter drehte dann die Platte des Elektroherdes an, auf dem das Mittagessen zum Aufwärmen stand. Wenn Eva nach Hause kam, hatten ihre Mutter und ihr Bruder bereits gegessen. Berthold war erst zehn und ging noch in die Grundschule um die Ecke.

Diesmal war das Essen noch nicht fertig. Es gab Pfannkuchen mit Apfelmus und Pfannkuchen machte ihre Mutter immer frisch.»Schön knusprig müssen sie sein. Aufgewärmt sind sie wie Waschlappen.«

«Wo ist Berthold?«, fragte Eva, als sie sich an den Tisch setzte. Irgendetwas musste man ja sagen.

«Schon lang im Schwimmbad. Er hat hitzefrei.«

«Das müsste uns auch mal passieren«, sagte Eva.»Aber bei uns ist es ja angeblich kühl genug in den Räumen.«

Die Mutter hatte die Pfanne auf die Herdplatte gestellt. Es zischte laut, als sie einen Schöpflöffel Teig in das heiße, brutzelnde Fett goss.»Was hast du heute vor?«, fragte sie und wendete den Pfannkuchen. Eva löffelte sich Apfelmus in eine Glasschüssel und begann zu essen. Von dem Geruch des heißen Fettes wurde

ihr übel.»Ich mag keine Pfannkuchen, Mama«, sagte sie.

Die Mutter hielt einen Moment inne, stand da, den Bratenwender mit dem darüber hängenden Pfannkuchen in der Hand, und sah ihre Tochter erstaunt an.»Wieso? Bist du krank?«

«Nein. Ich mag heute nur keine Pfannkuchen.«

«Aber sonst isst du Pfannkuchen doch so gern.«

«Ich habe nicht gesagt, dass ich Pfannkuchen nicht gern esse. Ich habe gesagt, ich mag heute keinen.«

«Das versteh ich nicht. Wenn du sie doch sonst immer gern gegessen hast…!«

«Heute nicht.«

Die Mutter wurde böse.»Ich stell mich doch nicht bei dieser Hitze hin und koche und dann willst du nichts essen. «Klatsch! Der Pfannkuchen lag auf Evas Teller.»Dabei habe ich extra auf dich gewartet. «Die Mutter ließ wieder Teig in die Pfanne laufen.»Eigentlich wollte ich schon um zwei bei Tante Renate sein.«

«Warum bist du nicht gegangen? Ich bin doch kein kleines Kind mehr.«

Die Mutter wendete den nächsten Pfannkuchen.»Das sagst du so. Und wenn ich nicht aufpasse, kriegst du nichts Gescheites in den Magen.«

Mechanisch bedeckte Eva den Pfannkuchen mit Apfelmus. Da war auch schon der Zweite.»Aber jetzt langt es, Mama«, bat Eva.

Die Mutter hatte die Pfanne vom Herd genommen und zog sich eine frische Bluse an.»Ich habe im Kaufhof einen schönen karierten Stoff gefunden, ganz billig, sechs Mark achtzig der Meter. Renate hat mir versprochen, dass sie mir ein Sommerkleid macht.«

«Du kannst doch selbst schon so gut nähen«, sagte Eva.»Wozu musst du immer noch zur Schmidhuber?«

«Sag nicht immer >die Schmidhuber<. Sag >Tante Renaten«

«Sie ist nicht meine Tante.«

«Aber sie ist meine Freundin. Und sie mag dich. Sie hat schon viele schöne Sachen für dich gemacht.«

Das stimmte. Sie nähte immer wieder Kleider und Röcke für Eva, und sie konnte ja nichts dafür, dass Eva in diesen Kleidern unmöglich aussah. Eva sah in allen Kleidern unmöglich aus.

«Was machst du heute Nachmittag?«, fragte die Mutter.

«Ich weiß noch nicht. Hausaufgaben.«

«Du kannst doch nicht immer nur lernen, Kind. Du musst doch auch mal deinen Spaß haben. In deinem Alter war ich schon längst mit Jungen verabredet.«

«Mama, bitte, verschon mich.«

«Ich meine es doch nur gut mit dir. Fünfzehn Jahre alt und sitzt zu Hause rum wie ein Trauerkloß.«

Eva stöhnte laut.

«Gut, gut. Ich weiß ja, dass du dir von mir nichts sagen lässt. Möchtest du vielleicht einmal ins Kino gehen? Soll ich dir Geld geben?«Die Mutter öffnete das Portemonnaie und legte zwei Fünfmarkstücke auf den Tisch.»Das brauchst du mir nicht zurückzugeben.«