Dann ließ er sie los, drehte sich auf den Bauch und lag, das Gesicht zur Seite gedreht, schweigend da.
Eva setzte sich auf. Sie war ratlos. Sie wusste nicht, ob sie etwas falsch gemacht hatte, sie wusste nicht, was Michel jetzt dachte. Sie war traurig. Sie betrachtete den Strauch neben sich. Was war das für einer? Dornen und winzige weiße Blüten. Warum hatte sie in Biologie nicht besser aufgepasst? Warum sagte Michel nichts? Sie dachte an Ilona. Wie sanft sie Franks Kopf gehalten hatte.
Eva drehte sich um und berührte Michel.»Bist du jetzt sauer?«
Pause.
«Ich kann nicht«, sagte Eva.»Nicht so schnell. Es macht mir Angst, ich weiß auch nicht, warum. Es ist so…«Sie suchte nach dem Wort für ihr Unbehagen, fand es nicht und schwieg.
«Macht doch nichts«, sagte Michel.»Dann halt nicht. Ich habe ja gewusst, dass du nicht so bist wie die anderen Mädchen.«
«Vielleicht werde ich noch so«, sagte Eva.»Vielleicht lerne ich es noch.«
16
«Ich habe eine Neuigkeit für euch«, sagte Herr Hochstein.»Es wird noch eine zusätzliche neunte Klasse eingerichtet. Fünf Schülerinnen sollen aus den bestehenden Klassen in die neue überwechseln. Nach Möglichkeit sollen es welche sein, die sich freiwillig melden.«
«Warum?«, fragte Susanne, die Klassensprecherin.»Warum soll es plötzlich noch eine Neunte geben?«
«Die Klassen sind zu groß, das wisst ihr doch auch. Siebenunddreißig! Es wird euch viel besser gehen, wenn ihr weniger seid. Also, überlegt es euch und redet mal darüber. Morgen machen wir eine Diskussionsstunde, falls es Schwierigkeiten gibt.«
Eva saß ganz still. Siebenunddreißig, dachte sie. Natürlich sind Siebenunddreißig zu viel. Aber auch nicht viel mehr als zweiunddreißig. Und so lange sind wir jetzt zusammen, beinahe fünf Jahre. Da können die doch nicht einfach kommen und sagen: Fünf müssen raus. Welche fünf? Wer würde gehen?
Sie sah, von ihrem Platz in der letzten Reihe, dem Platz neben Franziska, die Köpfe, die sich über die Hefte beugten, sah Hände, die nach dem Lineal griffen, nach Bleistift und Zirkel, hörte das dumpfe >plopp<, mit dem Zirkel auf Papier stießen, das leichte Kratzen der Bleistifte, Rascheln beim Umblättern.
Christine hustete. Sie hustete schon die ganze Woche. Wie konnte sie sich nur so erkältet haben, jetzt, mitten im Sommer? Heidi und Monika waren krank. Heidi fehlte schon seit über drei Wochen. Was hatte sie eigentlich? Warum kümmerte sich niemand darum? Brachte Inge ihr die Aufgaben? Sie wohnten nebeneinander. Aber Inge steckte doch eigentlich immer mit Brigitte und Nina zusammen.
«Welcher Winkel ist denn da gemeint bei der Aufgabe b?«, fragte Maxi.
«Alpha 32 Grad natürlich«, antwortete Irmgard hinter ihr. Irmgard hatte eine neue Bluse an, rosa.»Das wird die Modefarbe. «Karola, Fachmann in Fragen der Garderobe, hatte das bestätigt.
Wer würde freiwillig aus der Klasse gehen?
Agnes, in der ersten Reihe, weil sie so kurzsichtig war, die Kleinste aus der Klasse, sah aus wie zwölf, trug immer nur Bluejeans und T-Shirts, sie sah jeden Tag gleich aus. Ob ihre Eltern kein Geld hatten? Claudia und Ruth flüsterten miteinander. Sie würden sich nie trennen. Sie waren schon seit der fünften Klasse miteinander befreundet. Die Einzigen eigentlich, bei denen die Freundschaft gehalten hatte. Maja und Anna waren lange zusammen gewesen, aber jetzt ging Maja mit Ines und Anna mit Susanne.
Was war eigentlich, wenn freiwillig niemand aus der Klasse ging? Die Turnstunden fielen ihr ein, wenn Mannschaften gebildet wurden. Waren es die, die erst am Schluss gewählt wurden, die gehen mussten?
Was dachten die anderen? Wurde von ihr erwartet, dass sie freiwillig gehen sollte?
Warum ich? dachte Eva. Ich will nicht gehen. Ich kenne alle. Alexandra war eine Außenseiterin, sie und Sabine Karl. Keiner mochte Sabine Karl. Warum eigentlich nicht? Würden sie jetzt wollen, dass Sabine Karl geht?
Eva kämpfte gegen die aufsteigende Trauer und Resignation. Es ist nicht nur, dass ich alle kenne, dachte sie. Kennen ist es nicht allein. Es ist noch etwas anderes. Hier gehöre ich her, hier in diese Klasse.
Karola stöhnte über der Aufgabe. Von ihr würde niemand erwarten, dass sie ginge. Sie, Lena, Babsi, Tine und Sabine Müller, die waren eine richtige Clique, die Schönen, die in den Pausen immer zusammensteckten.
Was passierte wirklich, wenn keine freiwillig gehen wollte? Konnte man das per Beschluss entscheiden? Oder mit geheimer Wahl? Eva fror.
«Eva, hast du heute keine Lust zum Arbeiten oder was?«, fragte Herr Hochstein.
Karola lachte laut.»Ich habe jedenfalls keine Lust«, sagte sie.
«Bald sind Ferien, da kannst du dich ausruhen«, antwortete Herr Hochstein.
Eva wurde rot und nahm ihren Zirkel.
In der Pause drängten sie sich zusammen, alle Mädchen der 9 b.
«Warum soll plötzlich jemand raus aus der Klasse? Ich finde das blöd«, sagte Kathrin, die sonst sehr wenig sagte.
«Ich auch. Will irgendjemand freiwillig gehen?«, fragte Susanne.
«Mir würde es nichts ausmachen. Ich habe sowieso meine Freundin in der 9 a, wenn die sich auch melden würde, wäre das ganz schön für mich. «Das war Ingrid.
«Finde ich aber nicht gut, dass du einfach von uns wegwillst.«
«So ist das ja nicht. Aber wenn doch jemand raus muss!«
«Wir sollten uns das nicht gefallen lassen«, sagte Eva.»Wir sollten uns wehren. Keiner darf gezwungen werden, aus einer Klasse zu gehen, in der er nun schon fast fünf Jahre drin ist.«
«Richtig. Eva hat Recht. Wir lassen uns das nicht gefallen. Wenn einer das selbst will, weil er zum Beispiel eine Freundin in einer anderen Klasse hat, dann ist das in Ordnung. Aber keiner soll müssen.«
«Wenn es aber einfach vom Direktorat bestimmt wird?«, fragte Agnes.
«Dann streiken wir.«
«Wie?«
«Stell dich nicht so blöd. Entweder kommen wir überhaupt nicht zur Schule oder wir sitzen in den Bänken und machen nichts, irgendetwas wird uns schon einfallen.«
«In den Bänken sitzen und nichts machen ist das Beste«, sagte Eva.
«Wir gehen jedenfalls nicht raus, ich und Eva«, sagte Franziska ganz laut.»Wir weigern uns.«
«Der Esel nennt sich immer zuerst. «Karola gab Franziska einen freundlichen Stoß.
Eva wurde ganz warm vor Freude. Wir gehen nicht raus, ich und Eva.
«Wir sollten einen Brief schreiben bis morgen«, schlug sie vor,»mit allen Argumenten dagegen, und dass wir entschlossen sind, uns zu wehren, wenn das Direktorat über uns bestimmen will. Den sollten wir alle unterschreiben und beim Direktor abgeben. Und uns auf keine Diskussionsstunde einlassen.«
Susanne klopfte Eva anerkennend auf die Schulter.»Das ist eine gute Idee, Eva.«
Christine hustete wieder.»Wo hast du dich eigentlich so erkältet, mitten im Sommer?«, fragte Eva.
«Ich war blöd«, erklärte Christine.»Ich war abends mit meinen Eltern spazieren, und weil ich ein neues Kleid anhatte, wollte ich keine Jacke darüber ziehen, obwohl es kühl war. Und dann hat es sogar noch angefangen zu regnen.«
«Wer schön sein will, muss leiden.«
Christine lachte.»Hast du so einen Blödsinn noch nie gemacht?«
Eva hätte nein sagen müssen, nein, ich zieh immer gern einen Mantel darüber, das macht schlank, aber sie sagte:»Doch, natürlich.«
«Also, was ist«, fragte Susanne,»wer schreibt den Brief?«
Karola sagte:»Eva soll ihn schreiben. Sie kann das sicher am besten.«
«Das glaube ich auch. Machst du es, Eva?«
Eva wurde rot vor Freude.»Gern«, sagte sie.»Aber vielleicht sollten lieber mehrere zusammen den Entwurf machen.«
«Ich mach mit«, sagte Franziska.»Und Susanne sollte auch dabei sein. Und Anna.«
«O. K. Wo treffen wir uns?«
«Um vier bei mir. Seid ihr einverstanden?«Franziska sah richtig froh aus.»Das ist etwas nach meinem Herzen«, sagte sie.