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Michel sah ganz anders aus, so mitten in seiner Familie. Jünger sah er aus, kindlicher.

Der Vater hob den Koffer und die Reisetasche in den Zug. Die Mutter umarmte Michel. Sie war groß und kräftig, dick konnte man sagen, und Michel verschwand fast in ihren Armen. Das kleine Kind fing an zu weinen und die Mutter nahm es wieder. Ilona strich ihrem Bruder mit der Hand über das Gesicht. Wieder war Eva erstaunt über die Innigkeit in den Bewegungen dieses Mädchens. Ein Gefühl von Eifersucht stieg in ihr hoch. Wie kommt die dazu, ihn so zu berühren? dachte sie. Nur ich sollte das dürfen.

Aber gleichzeitig wusste sie, dass sie das nicht konnte. Nicht bei Michel.

Eva hatte die Zeitung schon lange sinken lassen. Michel schaute nicht herüber. Er umarmte Ilona und streichelte ihren Kopf. Seine Mutter, das kleine Kind auf dem Arm, wischte sich mit der anderen Hand über die Augen. Michel war ganz eingeschlossen in Berührungen, Blicken und Worten.

Eine richtige Familie, dachte Eva. Sie gehen sehr lieb miteinander um. Bei uns würde zum Beispiel nie so viel geküsst.

Wann hatte sie eigentlich Berthold das letzte Mal geküsst? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Sie wusste noch nicht einmal, ob Berthold das mögen würde.

Die beiden Buben kamen zurück von der anderen Seite des Bahnsteigs. Sie hatten einen Gepäckwagen erwischt. Einer schob, der andere saß darauf. Sie lachten und winkten und drängten sich zwischen den Leuten hindurch. Einer sah ein bisschen aus wie Michel, ein ausgelassenes, frohes Gesicht.

Der Bahnsteig war voll geworden. Überall standen Leute herum, die sich verabschiedeten. Vierzehn Uhr zehn war es inzwischen. Noch sechs Minuten. Ach Michel. Eva war traurig. Ich hätte dich lieben können, wenn…! Wenn was?

Sie drehte sich um und ging. Ein bisschen steif waren ihre Beine und ihre Augen brannten, aber sie drehte sich nicht mehr um. Michel würde ihr schreiben, sicher, und sie würde ihm antworten. Es war noch nicht vorbei. Noch nicht.

Am Bahnhofsplatz war ein Cafe. Eva ging hinein, setzte sich an einen freien Tisch und bestellte eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen. Käsesahne.

18

Was für ein Tag! So viele Tage gab es in Evas Leben, die langsam vergingen, träge, zäh, mit Minuten, die sich mühsam-müde aneinander reihten, bis endlich wieder eine Stunde um war, so viele Tage, an denen nichts passierte, an denen die Welt stillzustehen schien oder besser: in einer klebrigen, durchsichtigen Masse zu ersticken drohte, Tage, an denen Eva sich langsam bewegte, nicht merkte, dass sie sich bewegte, Tage, an denen nichts, überhaupt nichts passierte außer dem üblichen Trott, kein Glanzlicht, kein heller Tupfer auf dem grauen Einerlei, kein Blick, kein Lächeln, keine flüchtigen Worte und keine Berührung.

Und dann kam ein Tag wie dieser.

Es war noch nicht einmal so, dass das Wetter besonders schön gewesen wäre. Eigentlich war es eher trist, wolkenverhangen, aber als Eva morgens aus ihrem Fenster schaute, hinein in diesen grauen Morgen, spürte sie schon das Kribbeln auf der Haut, die Sommermorgenkühle, frische, kalte Luft, und sie atmete tief durch.

Der Häuserblock gegenüber, der, in dem die Grabers wohnten, die Grabers mit der >guten Tochter<, verschwand fast im Grau des Himmels. Himmel und Haus hatten die gleiche Farbe, die Konsistenz war natürlich anders, aber Eva musste zweimal hinschauen, um das zu sehen. Es war ein seltsames Grau, ein weiches, wattiges, einhüllendes.

Eva stand lange am Fenster und schaute hinaus.

Dann, beim Frühstück, zog der Vater sein Portemonnaie und hielt Eva einen Hunderter hin.»Hier«, sagte er.»Kauf dir was Schönes, das ist zusätzlich zum Taschengeld, weil es doch dieses Jahr nichts wird mit dem Urlaub.«

Berthold schaute von seinem Teller hoch.

«Du kriegst auch etwas«, sagte der Vater,»morgen, wenn du zu Tante Irmgard fährst.«

Berthold nickte und bestrich sein Brot mit Kalbsleberwurst.

«Natürlich bekommst du keine hundert Mark. Du bist ja erst zehn. Bei Eva ist das schon etwas anderes.«

«Ja«, sagte Berthold.

Eva nahm den Hunderter und legte ihn unter ihren Teller.»Danke, Papa.«

«Was kaufst du dir?«, fragte die Mutter.

«Ich weiß noch nicht«, antwortete Eva.»Ich gehe heute in die Stadt. Vielleicht sehe ich was, das ich will.«

Sie räumte ihr Zimmer auf, ordnete ihre Platten, als ihre Mutter hereinkam.»Post für dich, Eva. «Sie hielt ihr eine Postkarte hin und blieb neugierig stehen.

Eva nahm die Karte, legte sie auf ihren Schreibtisch und stellte die Beatles-Platten nebeneinander in den Ständer.

«Na ja, dann nicht«, sagte die Mutter und ging zurück in die Küche.

Eva nahm die Karte und drehte sie um. In sauberer, kindlicher Schrift stand da:»Meine liebe Eva! Hamburg ist wunderschön. Ich bin gerade erst angekommen. Schade, dass du nicht da bist. Ich schreibe dir bald. Dein Michel.«

Eva lachte. Viel war das nicht, aber sie freute sich, dass er sofort an sie gedacht hatte.

Laut singend machte sie ihr Zimmer fertig.

«Mama, ich hole mir einen Blumenstrauß. Soll ich dir etwas mitbringen?«

«Zwei Liter Milch und ein Pfund Salz. Und sechs Äpfel. Ich will Milchreis machen.«

Eva wählte einen Strauß Wiesenblumen für eine Mark achtzig. Ich fahre nächste Woche mal mit der S-Bahn in irgendein Dorf und dort werde ich spazieren gehen, nahm sie sich vor. Sie sah die Wiese, eine Hangwiese würde es sein, in der Sonne, voller Blumen. Richtig bunt würde die Wiese sein. Sie würde sich mitten hineinlegen und in den blauen Himmel schauen. Bienen würden über sie hinwegfliegen und im nahen Wald würde ein Kuckuck rufen. Kuckuck, Kuckuck, sag mir doch, wie viel Jahre leb ich noch? Eins, zwei, drei, vier…

Eier und Schmalz, Butter und Salz, Milch und Mehl, Safran macht den Kuchen gel, sang sie, als sie die Treppe hinaufstieg.

Die Mutter fuhr mit Berthold zum Kaufhof. Er brauchte noch Unterhosen und neue Gummistiefel, wenn er morgen zu Tante Irmgard fuhr.

Eva setzte Teewasser auf und goss die Blumen im Wohnzimmer. Da klingelte es. Eva drückte auf den Türöffner und hörte, wie unten die Haustür mit einem lauten Knall ins Schloss fiel.

«Ich bin's«, sagte Franziska.»Mir war langweilig zu Hause.«

«Komm rein.«

Und dann saß Franziska, bräunlich in der hellen Hose und dem hellblauen Hemd, in Evas Zimmer. Sie saß auf dem Bett und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, die Beine hatte sie weit von sich gestreckt. Wie eine Katze liegt sie da, so entspannt, dachte Eva. Richtig schön.

«Hast du Lust, Mathe zu machen?«, fragte sie.

Franziska schüttelte den Kopf.»Heute nicht, morgen.«

Was für ein Tag. Wann hatte sie einmal Besuch gehabt in ihrem Zimmer? Nie? Wirklich nie?

«Ich bin froh, dass du gekommen bist.«

Franziska lachte und streckte sich.»Mach doch mal Musik an!«

Eva legte eine Kassette ein.

«Bei dir ist es richtig gemütlich. Aufgeräumt.«

Eva dachte an Franziskas Zimmer, an den großen Raum in der Altbauwohnung, mit hoher Stuckdecke und schönen, alten Möbeln. Die ganze Wohnung war so, schön, aber unordentlich war sie auch.

«Eure Wohnung gefällt mir viel besser.«

«Mir nicht. So ein Zimmer, wie du es hast, klein, gemütlich, das ist viel schöner. Hast du schon mal in einem Altbau geschlafen? Nein? Dann musst du bald mal bei mir übernachten. Überall knistert und knarzt es in der Nacht. Das ist richtig unheimlich. Ich habe immer Angst davor, nachts aufzuwachen.«

Du musst bald mal bei mir übernachten, hatte sie gesagt. Eva hatte noch nie bei einer Freundin übernachtet.