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«Ich hatte früher, als Kind, oft Angst nachts«, erzählte sie.»Ich stellte mir vor, was alles passieren könnte. Einbrecher könnten kommen, Mörder, oder das Haus könnte in Brand geraten. Dabei ist in Wirklichkeit nie etwas passiert.«

«Das kenn ich«, sagte Franziska.»Ich bin dann immer zu meiner Mutter ins Bett gestiegen. Leider bin ich jetzt schon zu groß dafür. Ich habe gern bei meiner Mutter geschlafen.«

«Ich habe nie bei meiner Mutter geschlafen«, sagte Eva.»Aber wenn ich geweint habe, ist sie immer gekommen und hat mich getröstet.«

Heiße Milch mit Honig und ein Butterbrot. Oder ein paar Kekse. Und wenn es gar zu schlimm war, gab es eine Tafel Schokolade. Verdammt, immer war es Essen gewesen. Essen ist gut, Essen vertreibt jeden Kummer!

Eva stand auf und ging zum Kassettenrecorder. Sie zog den Bauch ein beim Gehen.

«Die andere Seite?«, fragte sie.

«Ja, bitte.«

Eva drehte die Kassette um. Ich muss mir die Haare waschen, dachte sie. Unbedingt muss ich mir heute Abend die Haare waschen.

«Ich fand das toll, wie du das mit dem Brief an das Direktorat gemacht hast«, sagte Franziska.»Ich habe dich das erste Mal richtig reden hören, morgens in der Schule und dann nachmittags bei uns zu Hause. Sonst sagst du ja kaum was. Man muss dir die Wörter fast einzeln aus der Nase ziehen.«

Eva, verlegen, zog ihren Rock über die Knie.»Ich bin halt kein großer Redner.«

«Aber du kannst das«, sagte Franziska.»Wieso bist du nicht Klassensprecherin geworden?«

Eva, getroffen von dieser plötzlichen Aufwertung, wandte sich ab. Antwortlos, sprachlos holte sie den Tee aus der Küche.

Eva stand vor ihrem Bücherregal. Hinter den anderen Büchern steckte, in Querlage und gut getarnt, das Diätbuch. Es war nicht leicht gewesen, ein sicheres Versteck zu finden.

Eva dachte an die Situation in der Buchhandlung, an ihren heimlichen Diätversuch, an all die Verzweiflung, die niemand merken durfte, und zögerte. Doch dann nahm sie das Buch heraus und ging schnell in die Küche. Ihre Mutter saß am Tisch und las die Zeitung.

«Mama«, sagte Eva und legte das Buch auf den Tisch.»Kannst du nicht für mich mal anders kochen? Ich würde gern ein bisschen abnehmen, wenn es geht.«

Die Mutter schaute erstaunt auf.»Wieso? Hat dein Freund etwas gesagt?«

Eva schüttelte den Kopf.»Nein, nicht deswegen. Aber ich finde mich zu dick.«

«Aber du siehst doch gut aus«, sagte die Mutter.»Und dass du so schwer bist, das hast du vom Papa.«

«Und vom Essen. «Eva wollte das Buch schon wieder nehmen, es wäre einfacher gewesen und es ging ihr nicht mehr wirklich um die Diät, doch sie dachte an die Heimlichkeiten, an die verborgene Scham, und redete weiter:»Ich glaube ja auch nicht, dass ich dünn werde. Aber ausprobieren möchte ich es gern und ich will es nicht heimlich tun. Ich will nicht mehr heimlich essen und nicht mehr heimlich hungern. Nein, hungern will ich überhaupt nicht mehr. Aber wir könnten doch mal probieren, ein bisschen anders zu essen.«

Die Mutter nahm neugierig das Buch und blätterte darin herum.»Natürlich«, sagte sie.»Natürlich kann ich dir so etwas kochen. Weißt du was? Ich mache auch mit. Schaden kann es mir nicht. Und dem Papa erst recht nicht. Und jetzt in den Ferien können wir das wirklich machen. «Die Mutter war ganz begeistert.»Schau mal, da das Mittagessen: Fischfilet Neptun mit Grilltomaten. Das hört sich doch prima an. Soll ich das heute machen? Und zum Nachtisch Eis?«

«Ja«, sagte Eva.»Soll ich für dich einkaufen?«

«Wir könnten zusammen gehen. Magst du, dass wir zusammen gehen?«

Eva nickte.»Gern. Wir gehen zusammen einkaufen und dann kochen wir zusammen.«

«Und wenn es dem Papa nicht schmeckt, dann schicken wir ihn ins Restaurant.«

Eva lachte.»Traust du dich das?«

Die Mutter zuckte mit den Schultern.»Vielleicht nicht. Aber ich werde für dich das kochen, was du willst. Bestimmt.«

Eva legte ihrer Mutter die Arme um den Hals und küsste sie.

«Eva«, sagte die Mutter,»ach, Eva. Du sollst es besser machen als ich. Du sollst gescheiter sein.«

19

Eva und Franziska hatten gelernt und dann gingen sie in die Stadt.»Soll ich mit dir gehen?«, hatte Franziska gefragt, als sie von dem Hundertmarkschein gehört hatte.»Komm, lass mich mitgehen. Ich gehe gern einkaufen.«

«Ich weiß aber noch gar nicht, was ich will«, hatte Eva zögernd geantwortet. Wie würde das sein, anprobieren, wenn Franziska dabei war? Einkaufen mit der Mutter, das war etwas anderes. Die Mutter kannte Eva, schaute nicht auf den dicken Busen, wusste um die Größe ihres Hinterns. Franziska, hatte sie vielleicht noch gar nicht gemerkt, wie dick Eva war? Würde es ihr auffallen, wenn Eva Hosen probierte?

Jeans wollte sie kaufen. Aber vielleicht sollte sie doch lieber Bücher nehmen? Eigentlich wollte sie eine Hose und eine Bluse. Sie hatte schon lange keine Hose mehr gehabt.»Hosen will ich nicht nähen«, hatte die Schmidhuber gesagt.»Das lohnt sich nicht. Hosen muss man kaufen.«

«Eva, dir passen sowieso keine. Nimm lieber ein Kleid«, war die Meinung der Mutter.»Ein Faltenrock, oben eng, dann mit Springfalten, das ist günstig für dich. Und möglichst dunkel. Helle Farben tragen auf.«

Eva, aus Angst vor dem Gelächter, aus Angst vor dem Probieren, aus Angst vor der Erfahrung, dass ihr wirklich nichts passen würde, hatte genickt und wieder einen neuen Rock bekommen.

«Für mich ist es schwer, etwas zu finden«, sagte sie zu Franziska.

«Macht nichts. Ich habe Geduld, viel Geduld. Meine Mutter ist auch schwierig, aber sie mag es, wenn ich mitgehe. Sie sagt, ich könnte gut beraten.«

«Vielleicht kaufe ich aber auch Bücher.«

«Für hundert Mark?«

Sie fuhren mit der Straßenbahn in die Stadt. Franziska wusste einen kleinen Laden, einen ganz guten, sagte sie, dort würden sie bestimmt etwas finden.

«Was für eine Größe hast du?«, fragte Eva in das Rattern der Straßenbahn hinein.»Ich meine, in inch.«

«Neunundzwanzig oder achtundzwanzig, das kommt auf die Firma an.«

«Ich habe vierunddreißig oder sechsunddreißig«, sagte Eva.

«Was hast du gesagt?«

Draußen auf der Straße hämmerte ein Pressluftbohrer, bohrte Löcher in den Asphalt, riss breite Rinnen in die Straße.

«Überall diese Baustellen«, sagte Franziska.»Man versteht ja sein eigenes Wort nicht mehr.«

Einmal war Eva in einen Jeans-Laden gegangen, hatte aufgeregt und beschämt probiert.

«Wenn Ihnen vierunddreißig inch zu klein ist, probieren Sie doch mal sechsunddreißig inch.«

Die Verkäuferin hatte mit einer zweiten Verkäuferin geredet. Eva, in der Kabine, hatte sie nicht verstehen können, so leise hatten sie geredet. Sie hatte nicht gewusst, worüber sie lachten. Eva hatte in der Kabine gestanden, einen orangefarbenen Vorhang im Rücken, vor dem Spiegel hatte sie gestanden und versucht, die Jeans zuzukriegen, und draußen das Lachen der Verkäuferin, der sicher die Größe neunundzwanzig passte, einer, die nicht vierunddreißig oder sechsunddreißig probieren musste. Neunundzwanzig inch. Wenn Eva das jemals erreichen könnte! Sie hatte in der Kabine gestanden, Orange war wirklich keine Farbe für sie, wem stand überhaupt Orange, und hatte mit vor Anstrengung gerötetem Gesicht versucht, den Reißverschluss zu schließen. Es ging nicht. Er klemmte. Aber sie wagte nicht, die Verkäuferin zu rufen, die mit der Größe neunundzwanzig, vielleicht hatte sie sogar acht-undzwanzig, um sie zu bitten, ihr zu helfen beim Schließen.

Dann war sie zur Kasse gegangen, hatte die Jeans, die vierunddreißiger, auf die Theke gelegt und gesagt:»Ich nehme die. «Sie hatte bezahlt und war gegangen. Warum hatte sie das gemacht? Neunundsechzig Mark für nichts, für eine Hose, die ihr zu eng war, die sie nie anziehen konnte, nur weil sie sich schämte zu sagen:»Sie passt mir nicht.«