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Karola drehte sich um.»Gut«, flüsterte sie.

«Aber nein«, stotterte Herr Hochstein, dem schadenfrohen Grinsen der Mädchen ausgeliefert,»so war das nicht gemeint. Es ist nur der Lehrplan, weißt du…!«

Eva war über sich selbst erschrocken.

«Danke«, flüsterte das Mädchen neben ihr.

Als die Stunde vorbei war, wandte sich Herr Hochstein noch einmal an Franziska.»Du hast Glück, dass du neben unserem Mathe-As sitzt. Eva könnte dir viel helfen.«

Diesmal war Eva nicht ganz sicher, ob es wirklich spöttisch gemeint war. Es klang fast wie ein gut gemeinter Rat.

Franziska saß immer noch neben Eva. Und sie war immer noch ziemlich schlecht in Mathe, obwohl Eva ihre alten Hefte herausgekramt und sie ihr gleich am nächsten Tag gegeben hatte. Und immer noch sprach sie Eva an, redete mit ihr über Lehrer und gab ihr morgens zur Begrüßung die Hand.

«Ist etwas passiert?«

«Nein. Wieso?«

«Weil du so aussiehst.«

«Ich habe Kopfschmerzen.«

«Und warum bist du dann nicht zu Hause geblieben?«

Eva antwortete nicht. Sie packte ihre Bücher aus. Sie hasste diesen Raum. Sie hasste dieses Haus. Jeden Tag, immer wieder! Über vier Jahre lagen hinter ihr und über vier Jahre vor ihr. Sie konnte sich das fast nicht vorstellen. Erste Stunde Herr Hochstein, Mathe, zweite Stunde Frau Peters, Deutsch, dritte Stunde Frau Wittrock, Biologie, vierte Stunde Herr Kleiner, Englisch, fünfte Stunde Herr Hauser, Kunst, sechste Stunde Frau Wendel, Französisch. Und in allen Fächern musste sie gut sein.

Ein Test in Englisch. Gelernt hatte sie gestern noch. Aber Karola, in der Bank vor ihr, stöhnte:»Und das bei diesem Wetter. Gestern war ich bis sieben im Schwimmbad.«

Diese Gans, dachte Eva. Immer beklagt sie sich, aber nie tut sie was. Sie ist selbst schuld.

«Franziska, gibst du mir einen Spickzettel?«, bat Karola flüsternd. Franziska, die eine englische Mutter hatte und besser Englisch sprach als Herr Kleiner, nickte.

Eva begann zu schreiben. Franziska schob ihr einen Zettel zu.»Für Karola«, sagte sie leise. Eva schob den Zettel zurück.

«Sei doch nicht so. Gib weiter.«

Eva schüttelte den Kopf, sie schaute nicht auf, bewegte den Kopf kaum merklich und hätte ihn doch schütteln wollen, deutlich sichtbar, hätte am liebsten laut» Nein «geschrien und» Sie geht schwimmen, sie geht auf Partys, sie geht tanzen, sie erlebt immer etwas! Warum soll sie auch noch gute Noten haben?«

Franziska hatte das winzige Kopfschütteln gesehen, sie beugte sich vor, schräg rüber, und ließ den Zettel über Karolas Schulter fallen.

Herr Kleiner war mit ein paar Schritten da, griff nach Franziskas Blatt und legte es auf seinen Tisch. Mit seinem roten Filzschreiber zog er quer über das Geschriebene einen dicken Strich.

Niemand sagte ein Wort. Franziska saß mit unbeweglichem Gesicht da. Sie ist selbst schuld, dachte Eva. Ganz allein ist sie schuld. Niemand hat sie gezwungen, das zu tun. Und dann dachte sie noch: Karola ist auch schuld. Warum tut sie nie etwas und will hinterher, dass andere ihr helfen?

In der Pause ging Franziska nicht neben Eva her.

6

Eva war um drei am Brunnen. Sie hatte den dunkelblauen, engen Rock angezogen, dunkle Farben strecken, und die dunkelblaue Bluse, die die Schmidhuber ihr zum Sommer genäht hatte.

Michel war noch nicht da. Eva wischte mit der flachen Hand über die Brunnenmauer. Der Staub stob hoch und sank langsam zurück. Sie ärgerte sich über die grauen Wolken auf ihrem Rock, und beim Versuch, sie wegzuwischen, rieb sie den hellen Staub erst recht in das dunkelblaue Leinen. Die Steine waren heiß. Lange hielt sie es nicht aus, da in der Sonne, auffällige Statue auf dem Brunnenrand. Sie setzte sich unter einen Baum.

Er kommt sicher nicht, dachte sie. Warum sollte er auch kommen? Er kann ganz andere Mädchen haben, schlanke, schöne. Sie pflückte ein Gänseblümchen und drehte es langsam zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her.

Warum warte ich? Ich weiß doch, dass er nicht kommt. Auf Karola habe ich auch so gewartet, damals, und ich stand an der Straßenecke, fast eine Stunde, bis ich dann heimging. Und am nächsten Tag war Karola überrascht, hatte es einfach vergessen, nur so. Tut mir Leid, Eva, bei uns war plötzlich so ein Trubel. Meine Tante ist gekommen, ja, die. Du weißt schon.

Und Eva hatte gewusst, verstanden, genickt, gelächelt.

Michel war immer noch nicht da. Natürlich nicht. Er würde nicht kommen. Nach einer Stunde würde Eva traurig und enttäuscht nach Hause gehen, würde sich auf ihr Bett legen und weinen. Dann würde sie sich das Gesicht mit kaltem Wasser waschen, vielleicht ein Stück Schokolade essen und lächeln.

Schon viel früher hatte sie sich Schokolade in den Mund gesteckt und gelächelt. Komisch, dass ihr das jetzt einfiel. Das war gewesen, als Erika weggezogen war, Erika, die Freundin, mit der sie schon zusammen im Kindergarten gewesen war. In der zweiten Klasse waren sie gewesen, als Erikas Eltern wegzogen und ihr Erika wegnahmen. Die Mutter hatte Eva in den Arm genommen und ihr eine Tafel Schokolade gegeben.»Was soll man da machen?«, hatte sie die Schmidhuber gefragt.»Sie ist halt so sensibel. «Und die Schmidhuber hatte genickt und» Ja, ja «gesagt. Und Eva hatte die Schokolade gegessen, hatte sie im Mund zergehen lassen, herrliche, stumpfe Süße, hatte sie geschluckt und geschluckt, die Süße, hatte die Süße und die Tränen geschluckt und hatte in die Beruhigung ihres Mundes und ihres Bauches hineingelächelt.»Siehst du, Marianne«, hatte die Schmidhuber gesagt,»es gibt doch keinen Kummer, den man nicht mit etwas Gutem ein bisschen versüßen könnte. «Eva hatte gelächelt.

Und nie hatte sie Erikas Briefe beantwortet.

Sie zupfte dem kleinen Gänseblümchen ein Blütenblatt aus: Er liebt mich, ein zweites: von Herzen, ein drittes: mit Schmerzen, ein viertes: ein wenig, ein fünftes: nein, gar nicht. Es war nicht leicht, dem kleinen Gänseblümchen die noch kleineren Blütenblätter wirklich einzeln auszureißen. Als Eva schon über die Hälfte war, er liebt mich, von Herzen, mit Schmerzen, ein wenig, nein, gar nicht, versuchte sie, mit den Augen die weißen Blättchen abzutasten, herauszufinden, wie es enden würde. Das Gänseblümchen sah sehr nackt aus, sehr zerrupft. Wütend warf Eva es ins Gras.

Wie lange saß sie schon da? Sie hatte keine Uhr. Der Rasen war ausgedorrt, trocken, graugrüne Grasbüschel, kurzstoppelig gemäht, nur ab und zu ein winziges Gänseblümchen.

«Hallo, Eva.«

«Hallo, Michel.«

«Ich komme zu spät.«

«Ja.«

«Ich dachte, du würdest mich sowieso versetzen.«

«Wieso sollte ich das?«

«Ich weiß nicht. Halt so.«

Er trug dasselbe Hemd wie gestern, schwarz, die Zipfel waren so zusammengeknotet, dass man einen Streifen seines braunen Bauches sehen konnte. Ersetzte sich neben sie.»Wo hast du dein Schwimmzeug?«

«Ich mag nicht ins Schwimmbad gehen.«

«Das ist gut. Ich habe nämlich immer noch kein Geld.«

Er sah mürrisch aus, schlecht gelaunt.

«Ist was?«, fragte sie.

«Was soll sein?«Er zupfte Grashalme aus, riss sie in kleine Stückchen, graugrüne, staubige Halme. Er hielt den Kopf gesenkt und schaute auf seine rupfenden Finger, seine braunen, langen Haare fielen nach vorn, verdeckten sein Gesicht, so dass Eva nur noch seine Nasenspitze sehen konnte. Die Worte saßen ihr im Hals, all die lockeren, lustigen Worte, die sie hatte sagen wollen, die Witze, die sie gern gemacht hätte, das Lachen, das sie gern gelacht hätte, alles war ihr im Hals stecken geblieben, ballte sich zu einem dicken Kloß und ließ sie schwer atmen. Es war so still. Sie bemühte sich, leise tief durchzuatmen, sie wollte nicht keuchen wie ein Walross. Keuchten Walrosse überhaupt?

Warum sagte er nichts? Warum sagte sie nichts? War es das, auf das sie gewartet hatte?