«Was macht ihr denn da?«
«Wir konnten nicht schlafen. «Die Mutter schaute zum Vater hin. Ihr Gesicht war ausdruckslos.
«Ist gut«, murmelte der Vater.»Aber komm bald wieder ins Bett. «Die Tür klappte zu.
Eva wartete eine Weile. Dann sagte sie:»Ich war mit einem Jungen am Fluss.«
«Das habe ich mir gedacht, weil du noch nie so lange weg warst. Ist es ein netter Junge?«
«Ja, er ist sehr nett.«
«Der Papa meint, ich sollte mal mit dir reden, dich vor den Männern warnen.«
«Aufzuklären brauchst du mich nicht mehr. Ich weiß das alles.«
Die Mutter wurde rot.»So habe ich das nicht gemeint. Aber die Jungen sind manchmal aufdringlich, und ein Mädchen, das was auf sich hält…«
«Mama, ich weiß, was ich zu tun habe.«
«Na ja«, die Mutter seufzte.»Ich habe ja auch dem Papa gesagt, jeder muss seine Erfahrungen selbst machen. Ich habe auch nicht auf meine Mutter gehört, damals, habe ich gesagt.«
Eva lachte.»Ich glaube, du bist müde. Du fängst schon an zu reden wie die Oma.«
«Da ist aber was dran, glaub mir das. Ich habe mir auch alles anders vorgestellt. «Die Mutter sah traurig aus.
«Du solltest dir eine Stelle suchen oder sonst irgendwas, damit du mal hier aus dem Haus herauskommst und nicht nur zur Schmidhuber.«
«Und der Haushalt? Du weißt doch, wie dein Vater ist.«
«Papa ist nur so, weil du dir alles gefallen lässt.«
Die Mutter antwortete nicht. Als die Tassen leer waren, räumte sie den Tisch ab. Eva stand auf. Die Mutter legte den Arm um sie.»Gute Nacht, mein Mädchen, schlaf gut!«
Eva drückte sich an sie. Die Mutter streichelte ihr über den Rücken und die Haare.
«Gute Nacht, Mama.«
8
Eva stand im Badezimmer vor dem Spiegel. Zum Glück gab es in der ganzen Wohnung keinen großen Spiegel außer dem auf der Innenseite einer Tür des Schlafzimmerschrankes. Eva ging ganz nah an den Spiegel, so nah, dass sie mit ihrer Nase das Glas berührte. Sie starrte sich in die Augen, graugrün waren ihre Augen, dunkelgrau gesäumte Iris, grünliche, sternförmige Maserung. Ihr wurde schwindelig. Sie trat einen Schritt zurück und sah wieder ihr Gesicht, umrahmt von Odolflaschen und Zahnbürsten, rot, blau, grün und gelb. Mutters Lippenstift lag da. Eva nahm ihn und malte ein großes Herz um dieses Gesicht im Spiegel. Sie lachte und beugte sich vor zu diesem Gesicht, das so fremd war und so vertraut.»Du bist gar nicht so übel«, sagte sie. Das Gesicht im Spiegel lächelte.»Du bist Eva«, sagte sie. Das Gesicht im Spiegel formte einen Kussmund. Die Nase war ein bisschen zu lang.»Das ist Evas Nase«, sagte Eva. Sie öffnete ihren Pferdeschwanz, ließ die Haare auf die Schultern fallen, lange Haare, lockig, fast kraus. Sie zog sich mit dem Kamm einen Scheitel in der Mitte, kämmte die Haare mehr nach vorn. So war es richtig. Würde es Michel gefallen? Sie schob ihre Lippen etwas vor, warf sie auf, nur ein bisschen, und senkte die Lider. Schön verrucht sah sie jetzt aus, fast wie eine Schauspielerin in einer Illustrierten. Sie schminkte sich die Lippen. Sie machte es langsam, ganz vorsichtig, und biss dann auf ein Tempotaschentuch, drückte die Lippen auf dem Papier zusammen, wie sie es bei der Mutter gesehen hatte.
Es klopfte an die Tür.»Wer ist denn drin?«Das war Berthold.
«Ich.«
«Mach schnell, ich muss dringend.«
Eva griff nach der Klopapierrolle, riss einige Blätter ab und wischte das Herz weg. Dann erst öffnete sie die Tür.
«Wie siehst du denn aus?«, fragte Berthold.
Eva fiel zum ersten Mal auf, dass er wie ihr Vater sprach.
«Gefallt es dir nicht?«
«Nein. Du siehst aus wie ein Zirkuspferd.«
Eva lachte.»Mir gefällt es. Mir gefällt es sogar sehr gut.«
«Warte nur, bis Papa dich so sieht.«
Aber der Vater sah sie nicht. Er schlief noch, hielt sein Samstagnachmittag-Schläfchen, machte sein Nickerchen, das meistens bis zur Sportschau dauerte.
«Gefällt es dir, Mama?«
Die Mutter zögerte.»Ganz anders siehst du aus«, sagte sie.»Ein bisschen wild.«
Eva nahm ihren blauen Regenmantel. Sie war froh über das schlechte Wetter, mit dem Mantel sah sie
nicht so dick aus.»Tschüss, Mama.«
«Viel Spaß, Kind. Und vergiss nicht, um zehn Uhr.«»Ja, ja«, sagte Eva und zog leise die Tür hinter sich
zu. Der Vater schlief.
Michel hatte sie erstaunt angesehen.»Siehst gut aus.«
Dann saßen sie in einem Cafe und tranken Cola. Eva mochte Cola eigentlich gar nicht so besonders. Michel hatte bestellt, ohne sie zu fragen.
«Normalerweise bin ich samstags immer im Freizeitheim«, sagte er. Er trug ein weißes Hemd, fast bis zum Nabel offen, und eine dunkelblaue Kordjacke. Richtig ordentlich sah er aus.
«Was macht ihr da, im Freizeitheim?«
«Alles Mögliche. Samstags tanzen wir meistens. Ein paar von den Jungen machen eine irre Musik. «Michel sah ganz stolz aus.»Einer von ihnen ist mein Freund. Er spielt E-Gitarre.«
«Grüß dich, Eva«, sagte jemand. Eva sah auf. Vor ihr stand Tine.
«Grüß dich«, sagte Eva.
Tine sah Michel neugierig an. Sie blieb einfach stehen und schaute Michel an. Der Junge neben ihr, ein schlaksiger, dünner mit langen, blonden Haaren, legte den Arm um sie und wollte sie weiterziehen.»Komm endlich. Ich habe Durst.«
Tine fragte:»Ist das dein Freund?«Aber sie schaute Eva nicht an dabei.
«Wenn du nichts dagegen hast«, antwortete Michel.
«Tschüss«, rief Tine und verschwand, von dem Langhaarigen gezogen, im hinteren Teil des Cafes.
«Wie die dich angesehen hat.«
«Wer war das?«
«Ein Mädchen aus meiner Klasse.«
«Genierst du dich nicht mit mir?«
Eva war verblüfft.»Wieso denn?«
«Na ja, weil ich ja nur in die Hauptschule geh, ich bin ja nichts Besonderes.«
Nichts Besonderes, dachte Eva. Die Hauptschule sieht man nicht, aber meinen dicken Hintern sieht jeder.
Laut sagte sie:»Du solltest das nicht so wichtig nehmen. Es ist doch eigentlich egal, in welche Schule jemand geht. Es sagt noch nicht einmal was darüber aus, wie intelligent man ist.«
«Das sagst du so«, antwortete Michel.»Ich bin noch nie mit einem Mädchen gegangen, das im Gymnasium ist. Ein bisschen komisch ist das schon.«
«Ist denn an mir was anders?«
«Viel.«
«Was denn?…
«Ich weiß nicht. Viel halt.«
Eva hätte gern gefragt:»Bin ich besser?«Sie hätte gern gewusst, genau gewusst, was Michel mit den anderen gemacht hatte. War er auch mit ihnen» am Fluss «gewesen? Aber die Fragen blieben in ihrem Bauch, die Angst davor, was er antworten könnte, schob die gedachten und vorgeformten Worte in ihren Bauch zurück, bevor sie noch den Mund aufmachen konnte.
Wieder war es still zwischen ihnen. Und wieder dachte Eva: Ist es das, was ich mir vorgestellt hatte, das, woran ich schon so oft gedacht habe? Und sie dachte: So ist das also zwischen Jungen und Mädchen, dass man nicht weiß, was man sagen soll, wenn man eigentlich so viel sagen möchte.
Sie bestellten sich noch eine Cola.
Später, im Kino, nahm Michel Evas Hand. Seine Hand war ein bisschen rauh und ein bisschen mager, ganz anders als Karolas.
Der Cowboy ritt durch die Prärie, ritt mitten hinein in einen roten Cinemascope-Technicolor-Sonnenunter-gang und Michel streichelte ihre Hand. Eva hielt ganz still. Sie hielt so still, dass sie fast nicht atmen konnte.
Michel hatte sie nach Hause gebracht, genau um zehn Uhr hatte sie die Wohnungstür aufgeschlossen.»Bist du das, Eva?«, hatte die Mutter aus dem Wohnzimmer gerufen.
«Ja, ich.«
Im Wohnzimmer sagte der Nachrichtensprecher:»Beim heutigen Nebeleinbruch haben auf Bayerns Straßen mindestens acht Menschen den Tod gefunden. «Stimmt, heute Morgen war es neblig gewesen.