Sie ging aus dem Zimmer und ließ die Tür zur Diele auf. Peter schielte von seinem Skizzenblock ihr nach. Seine Hand, die einen Balkon zeichnete, zitterte.
Ernst wird mir ja alles mitteilen, dachte er. Und wehe, wenn sie mich betrügt! Wehe!
«Kommst du endlich?«rief Sabine von der Diele her schnippisch.»Wenn mir der Zug wegfährt — «
Peter warf den Skizzenblock auf die Erde. Sie kann's nicht erwarten, würgte es in seinem Hals. Sie zittert schon vor Erwartung. Über die Terrasse verließ er das Haus, fuhr den Wagen aus der Garage und lehnte sich dann gegen die geöffnete Tür, während Sabine das Haus verschloß.
Grell schien die Morgensonne. Der Rhein gleißte im Sonnenlicht, die Blumen im Vorgarten glitzerten. Der Morgentau hing noch unverdunstet in den Blütenkelchen. Welch ein schöner Tag, dachte Peter Sacher. Und wie fängt er für uns an?!
Sabine kam über den Kiesweg des Vorgartens. Ihre Koffer standen oben an der Tür. Sie setzte sich in den Wagen.»Wir könnten endlich fahren.«
Das >wenn< blieb unausgesprochen. Peter wußte, was Sabine sagen wollte. Zähneknirschend ging er zum Haus zurück, nahm die Koffer auf und schleppte sie zum Auto. Er warf sie auf die Hintersitze. Sabine zog die Stirne kraus.
«Die Kleider verknittern.«
«Es wird ja wohl Büglereien geben.«
«Außerdem ist Zerbrechliches drin.«
«Zerbrechliches?«
«Geschenke.«
«Ach!«
«Ja! Fahren wir nun endlich?«
Das mit den Geschenken war nicht wahr, aber sie sah, wie sich Peter Gedanken darüber machte und vor allem, wie wütend die Gedanken ihn werden ließen.
Die andere Tür krachte zu. Peter ließ den Wagen an und raste dann auf die Chaussee Düsseldorf entgegen. Er hatte das Kinn vorgeschoben, die Finger um das Steuerrad verkrampft, den Blick starr auf die Straße gerichtet.
Sabine wurde es angst, wenn sie zur Seite auf die wegrasenden Bäume blickte.
«Der Weltrekord liegt bei ungefähr 600 km in der Stunde«, sagte sie burschikos. Es kostete sie eine ungeheure Anstrengung. Peter nickte. Er trat das Gaspedal bis zum Anschlag und ließ den Fuß so stehen. Der Motor heulte. Sabine umklammerte die Fensterkurbel.
«Gleich kommt eine Kurve, Peter.«
Ehe sie weitersprechen konnten, waren sie schon hindurch, schleudernd, pfeifend, heulend, aber es war gelungen.
Von da ab sprachen sie nicht mehr. Um zu zeigen, wie gleichgültig ihr die Raserei sei, stellte sie das Radio an. Tanzmusik. Mit zitternden Lippen pfiff sie mit. Sie sah hinaus auf die Straße, sie schloß die Augen, wenn eine Kurve kam oder ein anderer Wagen ihnen entgegenflog wie eine Granate. Jetzt, dachte sie, jetzt. Aber es krachte nicht. Der Wagen fuhr weiter, Peter starrte weiter geradeaus, mit einem Gesicht, das wie Stein war.
Als sie vor dem Düsseldorfer Hauptbahnhof hielten, sah Sabine auf die Uhr. Sie wollte nicht den Rekord messen, sondern sehen, wieviel Zeit ihr bis zum Abgang des Zuges blieb. Noch 17 Minuten. Da blieb sie sitzen. Fünf Minuten ausruhen, dachte sie. Wenn ich jetzt aussteige, schwanke ich wie eine Betrunkene. Meine Beine sind wie Pudding. Vielleicht kann ich gar nicht gehen, so sitzt mir der Schreck in den Gelenken.
Peter Sacher sah sie von der Seite an. Er hatte sich eine Zigarette angesteckt.
«Na? Wollen wir nicht?«
«Doch!«
«Wir sind da!«
«Ich sehe es mit Beglückung.«
Das war wieder eine Frechheit. Peter rauchte hastig. Selbst die Raserei kriegt sie nicht klein. So gewaltig ist der Trieb, von mir weg in dieses Doppelzimmer zu kommen, daß nichts mehr sie erschüttern kann!
Er stieg aus und riß auf ihrer Seite die Tür auf.
«Bitte!«sagte er steif wie ein Herrschaftschauffeur. Es fehlte nur noch die kleine Verbeugung und das Ziehen der Mütze. Sabine kletterte aus dem Wagen. Es ging besser, als sie geglaubt hatte. Die Beine zitterten nicht. Sie nahm ihre Koffer vom Rücksitz, stellte sie auf den Bürgersteig und reichte Peter die Hand entgegen.
«Also denn — bis zum 28. August!«
«Bis zum 28. August!«Er nahm ihre Hand und führte sie an die Lippen. Plötzlich kam er sich wie verlassen vor. Wie ausgestoßen. Das Pfeifen der Züge in der Bahnhofshalle gellte in seinen Ohren, als zerplatze mit ihm sein Kopf.»Erhole dich gut, Bienchen«, sag-te er stockend.»Werde schön braun, aber lieg nicht zuviel in der Sonne. Und viel, viel Freude. Ich, ich gönne sie dir. Du hast in der letzten Zeit so wenig gelacht.«
Sabine schluckte. Mein Gott, sprach sie sich zu. Nicht weich werden, nicht zeigen, daß man losheulen könnte. Mach das Kreuz hohl und sieh an ihm vorbei.
«Du auch, Peter!«sagte sie grober, als sie wollte.
«Ich werde in Paris in die Schule gehen.«
Biest! Er ist wirklich nicht wert, daß man ihn liebt!
«Wenn das Lehrgeld nicht zu teuer ist«, sagte sie giftig.»Ich werde mich auch nach Rezepten umsehen.«
Welch ein Luder, dachte Peter. Sein Gesicht wurde steinern.»Adieu!«Er stieg wieder in seinen Wagen und ließ Sabine neben den Koffern stehen. Überall standen ja Dienstmänner herum. Vielleicht wartete in der Halle schon der gelackte Affe, der das Doppelzimmer. Er wollte wieder aus dem Wagen springen, aber dann beherrschte er sich und ließ den Motor an. Sabine klopfte mit dem Knöchel des Zeigefingers an die Scheibe.
«Du«, sagte sie.»Wenn du mich sprechen willst, wenn du mir etwas schreiben willst, es ist ja möglich, daß du etwas sagen willst, nicht wahr, Düsseldorf, postlagernd. Postauftragsdienst. Sie haben meine Adresse. Hörst du, Peter. Vergiß es nicht, wenn du etwas zu sagen hast.«
Er nickte und fuhr an. Im Rückspiegel sah er, wie Sabine ihm nachwinkte. Inmitten der weißen Koffer stand sie, allein am Straßenrand. Das orangefarbene Kostüm leuchtete in der Sonne. Sie sah hübsch aus, schlank, sogar jung.
Die Vorfreude verjüngt sie, dachte Peter gehässig. Bei mir war sie immer ein welkes Mauerblümchen. Das war nicht wahr und auch ungerecht, aber welcher Wütende hat dafür ein Gefühl?
Er fuhr um die Straßenbahnhalbinsel herum und auf der anderen Seite zurück, am Bahnhof vorbei. Ganz langsam. Er sah, wie Sabine einen Gepäckträger herangewinkt hatte, wie sie ihm folgte, mit kleinen, schnellen Schritten. Auf hohen Absätzen mit weißer
Tasche und wippenden Hüften. Einige Männer blieben stehen, drehten sich um und sahen ihr wohlgefällig nach.
«Ihr Böcke!«brüllte Peter in seinem Wagen.
Dann trat er auf das Gas und raste die Graf-Adolf-Straße hinunter. Es war wie eine Flucht, denn er hatte in diesen Augenblicken das dringende Bedürfnis, Sabine aus dem Bahnhof zurückzuholen, in seinen Wagen zu reißen und zu sagen:
«Bleib! Bitte, bitte bleib! Ich bin ein Esel.«
Die Flucht kostete Peter Sacher drei Strafmandate wegen Überfahren der Höchstgeschwindigkeit.
ZWEITES KAPITEL
Es gibt Städte, die man nie vergißt.
Es gibt Schönheiten, die keine Lippe beschreiben kann.
Es gibt Ewigkeiten in der Gegenwart.
Sie schwingen in Paris.
Wer einmal über die breiten Boulevards gegangen ist, wer den Schwalben im Jardin du Luxembourg zusah, wer am Arc de Triomp-he stand und vom Place d'Etoile hinabblickte auf die Champs-Elysees, der kann nicht vergessen, wie sein Herz schneller schlug und ein Hauch von Unsterblichkeit ihn mit leichtem Schauer umwehte.
Im Dunst des Morgens stößt die Spitze des Tour d'Eiffel in den Himmel, die Seine mit ihren hundert gebogenen Brücken, als sei sie der Brustkorb von Paris, plätschert an die Quader-Quais, auf denen unentwegt die Angler stehen, während unter den Brückenbögen die Bettler von ihrem Decken- und Zeitungslager kriechen.
Von der Seine-Insel dröhnen die hellen Schläge der Notre-Dame, und die Karren der Bücherhändler werden in die Morgensonne geschoben. Am Montmartre, am Boulevard de Clichy, stellen die Maler ihre Werke an die Häuserwände, rücken die Baskenmützen in den Nacken und drehen sich in der Tasche eine Zigarette aus schwarzem Tabak. Aus den dumpfen Häusern und Hinterhöfen von La Chapelle und La Vilette quellen die Heere der Ladenmädchen, Midinetten und Kellnerinnen und trippeln zu der Metro, die sie hineinträgt in den erwachenden Giganten aus Stein, Glas und Liebe.